Klett-Themendienst Nr. 122 (06/2024)

Dem Land der Dichter und Denker geht der Nachwuchs aus. Kinder der vierten Klasse lesen immer schlechter. Das ergab die jüngste Internationale Grundschul-Lese-Untersuchung IGLU. Es besteht akuter Handlungsbedarf. Leseförderung im Unterricht fehlt oft die Zeit, anders sieht es in den Ganztagsangeboten aus.

Meike Thiermann weiß ein Lied von der aktuellen Situation zu singen. Die Leiterin der Grundschule Glücksburg beobachtet das sinkende Niveau mit Sorge. Wie viele ihrer Kolleg:innen an anderen Grundschulen weiß sie, dass das „Problem“ nicht nur Kinder aus zugereisten Familien betrifft. Zunehmend wird auch der Rückgang der Sprachkompetenz bei Kindern mi deutscher Muttersprache registriert. Lesen, lesen und nochmals lesen wurde daher nach der Bekanntgabe der jüngsten, schockierenden Resultate von den Ministerien verordnet. Nicht nur, wenn Deutsch als Zweitsprache angeboten wird.

Ein Blick in die pädagogischen Konzepte unterstreicht, dass viele Schulen ihr Bestes geben. So steht bei den Kindern der Grundschule Im Vogelsang in Saarlouis täglich eine Lesezeit verbindlich für alle an. Noch bevor der Unterricht beginnt. Schulen nutzen in allen Bundesländern das „Mehr an Zeit“, das ihnen der Ganztag bietet, um den Kindern die Welt der Buchstaben näher zu bringen, ihnen Freude am Lesen zu eröffnen.

„Wir lesen“ für die Grundschule

Den Ganztag hat auch eine gemeinsame Initiative des Ernst Klett Verlags und der Stiftung Lesen im Blick. Mit dem Ziel, die Leseförderung im außerunterrichtlichen Ganztag zu stärken, legten die beiden  Akteure jüngst die neue Förderheftreihe „Wir lesen“ auf. Das Materialangebot richtet sich an die Jahrgangsstufen eins bis vier. Im Schulportal der Stiftung Lesen steht didaktisches Begleitmaterial als Unterstützung von pädagogischen Fachkräften zur Verfügung. Deutschlandweit können 500 Schulen zum Auftakt entsprechende Materialpakete gewinnen.

Dr. Michael Schlienz, Geschäftsführer beim Ernst Klett Grundschulverlag, ist überzeugt: „Mit dem bundesweiten Ausbau des Ganztags steigen die Erwartungen an erweiterte Fördermöglichkeiten im außerunterrichtlichen Kontext. Hier ergeben sich Chancen für die Leseförderung.“ Er fügt hinzu: „Mit der Unterstützung allein im schulischen Kontext ist es oftmals nicht getan. Hier ein sinnvolles Angebot zu schaffen, das auch Zuhause oder in der Nachmittagsbetreuung eingesetzt werden kann und dabei an das schulische Lernen anschließt, das ist das Ziel unserer Kooperation.“ Sabine Uehlein, Geschäftsführerin Programme Stiftung Lesen, ist überzeugt: „Neben der schulischen Vermittlung können spielerische Aufgaben dabei helfen, Kinder zum Lesen zu motivieren. Im Ganztag unterstützen wir gemeinsam mit Klett die Fachkräfte in der außerunterrichtlichen Betreuung mit guten Ideen und Tipps, wie das gelingen kann.“

Anlässe schaffen – nicht nur im Unterricht

Vielerorts tragen die Lehrkräfte der Tatsache Rechnung, dass ihnen im Unterricht oft die Zeit fehlt, um das Lesen in dem Maße zu fördern, wie es eigentlich notwendig wäre. Sie versuchen, die außerschulischen Ganztagsangebote zu fördern und zu unterstützen. Vielfach handelt es sich um Erzieher, zunehmend aber auch um Ehrenamtliche. Auch die Grundschule in Deutschlands nördlichster Stadt Glückburg hat reagiert. Wöchentlich kommen junge wie ältere Menschen in die Schule, lassen sich von den Kindern vorlesen. Diese dürfen dafür den „normalen“ Unterricht verlassen. Die Lesepaten werden vom Schulamt und der Stadtbibliothek auf ihre Aufgabe vorbereitet. „Die älteren Kinder dürfen sich aussuchen, was sie vorlesen, für die Jüngeren gibt es Vorgaben der Lehrkräfte“, berichtet Schulleiterin Meike Thiermann. Sie weiß, dass das Wechselspiel aus selbst Vorlesen und von Lauschen von Geschichten die gute Mischung ergibt.

Doch auch das würde nicht ausreichen. Deshalb bieten die Lehrkräfte wie die im Ganztag tätigen Erzieher möglichst viele spielerische Lernanlässe. Eine von sechs Deutschstunden pro Woche ab Jahrgang zwei ist in Glücksburg ausschließlich dem Lesen vorbehalten. Alle Klassenräume sind mit einer Leseecke ausgestattet. Im Unterricht gestalten die Schüler ihr eigenes Lapbook – darin bündeln sie Informationen zu einem ihrer Projekte, die sie anschließend den Klassenkameraden präsentieren. Meike Thiermann weiß: „Es bedarf einer Fülle von Anlässen, um Kindern den Zugang zum Lesen zu erleichtern, ihnen die Freude daran zu offenbaren. Da wäre es natürlich hilfreich, wenn das Vorlesen wieder stärker zum Familienalltag gehören würde.“

Stetiges Üben führt zum Ziel

Zurück ins Saarland, hin zur Gemeinschaftsschule Quierschied. Wissend um die Bedeutung der Fähigkeit, gut und sicher zu lesen, hat diese Ganztagsschule ebenfalls zahlreiche Maßnahmen zur Steigerung der Sprachkompetenz und Leseflüssigkeit entwickelt. „Lesen macht fit“, lautet eine, in der Lesetandems zum Einsatz kommen. Lesestärkere fungieren als Trainer, etwas Schwächere als Sportlerinnen und Sportler. Die detailliert geplanten und mit klaren Rollenverteilungen konzipierten Trainingseinheiten dauern 15 Minuten und finden zwei- bis dreimal wöchentlich für sechs bis acht Wochen statt. Die Tandems sind Teil eines Lesekonzepts, das zuletzt auf der Tagesordnung der Schulentwicklung stand. Schulleiterin Martina Thielmann und ihre Stellvertreterin Petra Diehl setzen jedoch nicht nur auf den Peer-to-Peer-Effekt. Sie sind überzeugt: „Lesen ist Bestandteil jedes Faches, aber auch jeder Arbeitsgemeinschaft.“

Fördermaterial finden Schulen, die ihre Schülerinnen und Schüler noch stärker unterstützen möchten, nun auch in „Wir lesen“. Dazu noch einmal Dr. Michael Schlienz: „Die Idee zu diesen Heften verdanken wir unseren Autorinnen, die nach gezieltem Fördermaterial gesucht haben, das sie nach einem Lesediagnosetest wie dem „Potsdamer Lesetest“ oder der Diagnose des „Lautlesetutors“ einsetzen können. Die Leseförderhefte leisten genau dies auch: sie knüpfen passgenau an diagnostische Verfahren an und verbessern durch stetiges Üben die Leseleistung der Kinder.“

Autor: Stephan Lüke

 

Kompakt:

Die Ergebnisse aus IGLU 2021 zeigen ein ernüchterndes Bild: Die mittlere Lesekompetenz der Viertklässler*innen in Deutschland ist mit 524 Punkten im internationalen Vergleich zwar im Mittelfeld, verglichen mit der Ausgangserhebung 2001 (539 Punkte) und allen weiteren Erhebungen (2006: 548, 2011: 541, 2016: 537 Punkte) sind die mittleren Leistungen jedoch signifikant gesunken. Im Hinblick auf den Vergleich zwischen 2016 und 2021 liegt Deutschland nahe am Durchschnitt der teilnehmenden EU-Länder, die im Mittel in den letzten fünf Jahren ähnlich viel verloren haben. Allerdings erreichen einige europäische Länder wie beispielsweise Italien (537 Punkte), Bulgarien (540 Punkte), Polen (549 Punkte), Finnland (549 Punkte) oder England (558 Punkte) auch deutlich höhere mittlere Leistungen. Spitzenreiter sind Singapur (587 Punkte) und Hongkong (573 Punkte).

Quelle: Technische Universität Dortmund