Klett-Themendienst Nr. 119 (12/2023)

Lange Zeit sorgte die Künstliche Intelligenz (KI) nicht nur für Begeisterung bei Lehrkräften. „Wie erkenne ich, ob Lernende oder KI einen Text geschrieben haben“, fragten sie unter anderem. Dass die Bedeutung von KI für den Schulalltag jedoch noch viel weiter geht, das zeigt der Lautlesetutor (LaLeTu).

Daniel Iglesias ist ein Tüftler im positivsten Sinne. Mehr als anderthalb Jahrzehnte entwickelte er digitale Strategien für deutsche Banken. Doch ein anderes Thema packte den Vater einer fünfjährigen Tochter immer wieder: „Warum können Kinder immer schlechter lesen? Was kann man dagegen tun?“. Er grübelte und grübelte. Bis zum Tag als sich die Familie einen virtuellen Sprachassistenten anschaffte. Da war er überzeugt, dass Künstliche Intelligenz genutzt werden kann, um die Leseleistungen zu analysieren und zu fördern.
Die Idee war geboren, einen Lautlesetutor (LaLeTu) zu entwickeln, denn das laute Lesen fällt im Unterricht zu häufig der mangelnden Zeit zum Opfer. Er gründete das Startup Digi Sapiens und suchte sich Verbündete. Er fand sie u.a. in einem der führenden Sprachtechnologen an der Uni Stuttgart, Andreas Haag, der heute Co-Geschäftsführer bei Digi Sapiens ist sowie mit dem Leseforscher Prof. Dr. Gerhard Lauer (Johannes-Gutenberg-Uni Mainz). Mit einer bewussten Nutzung der Algorithmen schaffte Digi Sapiens ein nachhaltiges Geschäftsmodell für das Erlernen von Sprache. Seit Kurzem ist LaLeTu im Ernst Klett Verlag erhältlich.

Mit Lesen auf Medaillenjagd

Das Geheimnis hinter LaLeTu: Schülerinnen und Schüler erhalten hochwertige Kinderbücher zur Auswahl. Vorab wurden dazu tausend von ihnen nach ihren Interessen befragt. Dreimal pro Woche liest das Kind daheim am Computer mit Mikrofon eine Geschichte laut vor. Das geschieht in einem geschützten Raum ohne starke Hintergrundgeräusche. Daniel Iglesias: „Der LaLeTu ist ein Werkzeug für die konzentrierte Einzelarbeit und die Texte werden, um die Kinder zu fordern, in einem etwas oberhalb ihrer Kompetenzstufe angesiedelten Niveau ausgewählt.“ Negative, frustrierende Rückmeldungen sind nicht vorgesehen, dafür Gold-, Silber und Bronzemedaillen sowie Lernanregungen: „Versuch einmal…“ Die Medaillen werden digital verliehen und können vom Lernenden im Bereich „Meine Erfolge“ gespeichert werden.
Iglesias ist überzeugt, dass LaLeTu es den Lehrkräften extrem erleichtert, individuelle Stärken und Schwächen beim Lesen zu erkennen und gezielt zu fördern. „Das System gibt ihnen eine differenzierte und sachliche Rückmeldung. Es registriert Fehler, Lesegeschwindigkeit und Stimmdynamik“, sagt er. Und ein wenig Big Brother kann es auch spielen. Denn es erkennt auch, wenn ein Kind die abgesprochene Arbeit nicht erledigt hat.

„Das gesamte Paket trägt dazu bei, zu verfolgen, wie sich ein Kind entwickelt“, betont sein Erfinder. Er ist überzeugt, dass LaLeTu dazu beitragen kann, die erschreckend hohe Quote jener, die (noch) nicht in der Lage sind, 150 Wörter pro Minute flüssig zu lesen, deutlich zu senken. Perspektivisch kann er sich vorstellen, dass eine Weiterentwicklung des Lautlesetutors auch beim Erlernen von Fremdsprachen oder Deutsch als Zweisprache einsetzbar sein wird.

Objektive Wahrnehmung

Als Leseforscher zeigt sich auch Prof. Dr. Gerhard Lauer von dem Konzept „äußerst angetan“. Es bereite den Kindern Freude, auf diese Art zu lesen, auch wenn das nicht bedeute, dass Digitales nicht automatisch die bessere Variante des Lesens darstelle. Den Lehrkräften ermögliche LaLeTu eine objektivere Wahrnehmung und Unterstützung. „Aber er ersetzt die Lehrenden nicht“, hebt er hervor.

Er begleitet das Projekt wissenschaftlich. Sein Fazit fällt ausgewogen aus: „Für die quantitative Daten fehlt uns derzeit noch eine Kontrollgruppe, um den Lehrfortschritt genauer einschätzen zu können. Auch haben noch deutlich zu wenige Lehrer am Pilot teilgenommen bzw. sich nicht an die Standardisierung gehalten (z.B. zeitlich an die acht Wochen des Untersuchungszeitraum, insgesamt zu kleine Lesedauer, nur 68 Schüler usw.).“

Das positive „Aber“ folgt unmittelbar: „Die Daten zeigen einen Lernfortschritt der Kinder im Bereich Leseflüssigkeit um ca. 9 korrekt gelesene Wörter in der Minute innerhalb der acht Wochen.“ Die Ursache dafür muss noch präziser unter die Lupe genommen werden: Liegt es an der Regelmäßigkeit der Übung, an der Lesedauer oder in der Kombination von beidem. Die qualitativen Daten zeigten, dass LaLeTu auch als Tool für die Lehrdiagnostik geeignet sei, also nicht nur für die Förderung. Eine aussagekräftigere Studie soll weitere Klarheit verschaffen.

LaLeTu als Vorbild für KI-basierte Lernumgebungen

Nach Ansicht von Felicitas Stirn, Projektleiterin bei Klett, liegt der große Vorteil von LaLeTu darin, dass er gänzlich objektiv Kindern und Jugendlichen beim Lesen zuhöre. Er könne jeden Lesenden auf dessen eigenem Niveau begleiten und fördern. „Schlecht lesen zu können, ist im Klassenraum oft mit sozialem Druck verbunden, z.B. wenn Mitschüler lachen. Ein digitales Tool übt geduldig und wertfrei mit den Lesenden“, bilanziert sie.

Felicitas Stirn erinnert daran, dass Lesen die Grundlage für alle weiteren Schritte im Leben sei. Laut Forschung (IGLU) sei die Leseflüssigkeit Voraussetzung dafür, um später überhaupt in der Lage zu sein, Informationen aus Texten zu entnehmen. Aktuell erreichten jedoch über 40 Prozent der Kinder den Mindeststandard am Ende von Klasse 4 nicht mehr. „Klett möchte alle Lernenden in Bezug auf die Lesekompetenz fördern, um gelingende Bildungskarrieren zu ermöglichen“, sagt sie.
Sie ist überzeugt, dass LaLeTu zeigt, wie KI-basierte Anwendungen einen echten Mehrwert für Lernprozesse bieten können: „Lehrkräfte werden entlastet und erhalten fundierte Auswertungen. Lernende werden gefördert und altersgerecht motiviert. Diese Aspekte dienen durchaus als Vorbild für KI-basierte Lernumgebungen an sich.“

Text: Stefan Lüke

Kompakt
Hessens Digitalministerin Prof. Dr. Kristina Sinemus bewilligte aus dem Landesprogramm Distr@l – Digitalisierung erhebliche Fördermittel für die Entwicklung von LaLeTu. „Gemäß unserer Digitalstrategie fördern wir mit dem Programm vor allem digitale Forschungs- und Entwicklungsprojekte, bei denen der Nutzen digitaler Technologien für den Menschen im Mittelpunkt steht. Das Beispiel Digi Sapiens zeige den konkreten Nutzen sinnvoll eingesetzter KI. „Künstliche Intelligenz muss dem Menschen dienen, nicht umgekehrt“, so die Ministerin.

Buchtipp:
Der Lautlesetutor ist eine Kooperation zwischen dem Ernst Klett Verlag und dem Start-up Digi Sapiens. Mit einer eigenen Sprachtechnologie ausgestattet, analysiert und fördert der LaLeTu die Leseleistungen. Weitere Informationen unter: http://www.klett.de/lautlesetutor