Klett-Themendienst Nr. 120 (02/2024)

Kann man Demokratie lernen? Eine spannende Frage. Sie wie eine Gedichtinterpretation einstudieren, das kann man wohl nicht. Demokratie lebt ja von Beteiligung und vom Miteinander. Aber viele Kompetenzen, die Schülerinnen und Schüler im Deutschunterricht entwickeln, haben ganz direkt mit Demokratiebildung zu tun.

Kinder und Jugendliche mit den Grundwerten der Demokratie vertraut zu machen und ihnen auf vielfältige Art zu zeigen, wie Demokratie „geht“, das ist der Auftrag aller Schulen. Im Politikunterricht liegt der Zusammenhang mit Demokratiebildung auf der Hand, doch gerade im Deutschunterricht wird der Unterricht zum Trainingsplatz für sprachsensible Argumentationen, gründliche Recherchen und eine respektvolle Debattenkultur. Hier lernen Kinder und Jugendliche die Basis eines demokratischen Miteinanders und erarbeiten sich jene Fähigkeiten, die sie brauchen, um sich in demokratischen Systemen kompetent zu bewegen.

„Politik ist sprachliches Handeln“

Als Beispiel für einen unsensiblen Umgang mit Sprache nennt Birgit Lönne, Gruppenleiterin für das Fach Deutsch am Gymnasium beim Ernst Klett Verlag, das Wort „Flüchtlingswelle“. Welche Bilder entstehen bei diesem Wort? Welche (bedrohlichen) Emotionen werden angesprochen? Wer benutzt den Begriff mit welcher (steuernden) Absicht? Wenn Kinder und Jugendliche angeleitet werden, diesen Fragen nachzugehen, entwickeln sie ein Verständnis von der Macht des Wortes.

„Im Deutschunterricht geht es um die Reflexion von Sprache und ihrer Mechanismen. Sprache prägt unser Denken und unsere Empfindungen. Politik ist sprachliches Handeln, und was wir sagen, ist oft auch politisch, dessen müssen wir uns bewusst sein.“ Birgit Lönne

Gerade in diesen Wochen, in denen mehrere 100.000 Menschen auf die Straße gehen und sich gegen Rechtsextremismus aussprechen, zeigt sich Demokratie laut, lebendig und friedlich. Viele Debatten, die sich auf Instagram & Co verfolgen lassen, sind weniger friedlich. Mit Hass-Sprache und Fake-news wird dort gegen Menschen vorgegangen, die das demokratische Grundrecht auf Demonstration und freie Meinungsäußerung verteidigen.

Fundierte Recherche, Ergebnisse mit Substanz

Erwerb von Medienkompetenz, die in den Curricula aller Bundesländer verankert ist, gehört deshalb für Andreas Zdrallek zu den wichtigen Aufgaben des Deutschunterrichts. Folglich analysiert der Lehrer mit seinen Schülerinnen und Schülern u.a. die Kommunikation im Internet, studiert mit ihnen den Instagram-Auftritt des Bundeskanzlers und debattiert zum Beispiel darüber, wo die Grenze zwischen Beleidigung und Meinungsäußerung gezogen werden muss. „Es ist erschreckend, wie abfällig und unsachlich im Netz auf relevante Themen reagiert wird“, resümiert der Schulbuch-Herausgeber, Fachberater, Ausbilder und Lehrer an einem Leverkusener Gymnasium.

Die Besonderheiten des digitalen Diskurses sind ein wichtiges Unterrichtsfeld, Deutschunterricht sollte gerade hier die Kritikfähigkeit von Kindern und Jugendlichen schulen. Lönne: „Warum ist die mediale Empörungsspirale so gefährlich? Was sind sinnvolle Formen digitaler Partizipation, und was sind auch nützliche digitale Verständigungsstrategien gesellschaftlicher Kommunikation? Was kann ich glauben, woran erkenne ich Fakes in Texten oder Bildern? Es braucht ein hohes Maß an Inhaltswissen sowie an Text- und Medienkompetenz, um zunächst einmal an der richtigen Stelle Misstrauen demgegenüber zu entwickeln, was der Algorithmus mir auf einen Suchbegriff hin ausspuckt. Wie prüfe ich das und wie recherchiere ich Ergebnisse mit mehr Substanz?“

Bücher, Filme, Theater: „vermittelte Erfahrungen“

Beide, Verlagsfrau Lönne und Lehrkraft Zdrallek, würden sich sicher nicht um den Deutschunterricht kümmern, wenn ihnen nicht auch Literatur am Herzen liegen würde. Können also Schülerinnen und Schüler aus literarischen Werken etwas über Demokratie lernen?  „Unbedingt. Bücher, Filme und Theater sind vermittelte Erfahrungen, die uns, wenn sie uns richtig packen oder beschäftigen, helfen können, andere Leben zu verstehen, toleranter zu sein und uns und andere stärker zu akzeptieren“, zeigt sich Lönne überzeugt.

Zdrallek verweist auf eine Vielzahl von Werken, die zur Reflexion über Demokratie und Toleranz anregen. Dazu gehören „Woyzeck“ von Georg Büchner und Lessings „Nathan der Weise“, die von Juli Zeh beschriebene Gesundheitsdiktatur in ihrem Roman „Corpus Delicti“ sowie die Antikriegsromane „Der Trafikant“ (Robert Seethaler) und „Unter der Drachenwand“ (Arno Geiger).

„Meinungsbildung ist nie ganz fertig“

Und woran merkt er, ob es ein Schüler oder eine Schülerin „gepackt“ hat, ob sie gerade jetzt das anspruchsvolle Wesen der Demokratie etwas stärker als zuvor durchdringen? Zu diesen besonderen Momenten zählt Zdrallek jene, in denen Heranwachsende plötzlich verstehen, dass bei komplexen Fragen die Kategorien „richtig oder falsch“ oder „gut oder schlecht“ nicht passen. „Wenn sie das verstehen, und wenn sie sich dann im Feld der Meinungsbilder begründet verorten können, und wenn sie aushalten können, dass Meinungsbildung nie ganz fertig sein kann – dann ist das schon ein Erfolg von Demokratieerziehung“.

Text: Inge Michels    

Kompakt
Der Deutschunterricht gibt Schülerinnen und Schülern viele Anlässe, sich in demokratischen Kompetenzen auszuprobieren. Neben einem sensiblen Sprachgebrauch gehören dazu der kritische Umgang mit Medieninformationen sowie der respektvolle Austausch von fundierten Argumenten. Bücher, Filme und Theater liefern zudem Geschichten, in denen Menschen um demokratische Werte wie Toleranz und Akzeptanz ringen.

Mit dem Themenheft Sprache in politisch-gesellschaftlichen Verwendungszusammenhängen zur Lehrwerksreihe „Deutsch kompetent“ wird die Bandbreite der Sprachverwendung in politisch- gesellschaftlichen Kontexten in all ihren Facetten erarbeitet. Es wendet sich an die Klassen 11-13. Weitere Informationen zum Material unter diesem Link.