Klett-Themendienst Nr. 112 (3/2023)

Einschneidende politische Ereignisse auf der Welt häufen sich, denen Demokratiefeindlichkeit zugrunde liegt. Infolgedessen besinnt sich die Bildungspolitik wieder mehr auf Aktionen zur Förderung der Demokratie. Das zeigen etwa die „Wochen der Demokratie und Respekt an Schulen in NRW“. Ein Gymnasium aus dem Ruhrgebiet hat mitgemacht.

Mit Absperrgittern rammen aufgebrachte Menschen die Fenster des Plenarsaals des Nationalkongresses in Brasilia, dem Regierungssitz Brasiliens. Die Scheiben der Legislative bersten am 8. Januar 2023. Hunderte Demonstranten dringen in die drei wichtigsten Gebäude der brasilianischen Demokratie ein: in den Nationalkongress, den Obersten Gerichtshof und den Palácio do Planalto, den Sitz des Präsidenten. Bei der zornigen Menschenmenge handelte es sich um Anhänger des rechtsextremen brasilianischen Präsidenten Jair Bolsonaro, der knapp vom Herausforderer Lula geschlagen wurde. Der Ex-Präsident behauptete, die elektronischen Wahlurnen seien manipuliert worden.

Der Sturm auf die Gebäude der brasilianischen Exekutive, Legislative und Judikative ist ein Sinnbild für die Zerbrechlichkeit von Demokratien. Der Zerbrechlichkeit ‒ und zugleich auch der Stärke von Demokratien ist sich Jacob Schraven bewusst. Als Schülersprecher des Heinrich-Heine-Gymnasium (HHG) Bottrop präsentierte er eine Umfrage zu Diskriminierung und Mitbestimmung in der Demokratie-AG. Die Präsentation war ein Beitrag des HHG Bottrop für die „Aktionswochen Demokratie und Respekt an Schulen in NRW“ des Schulministeriums NRW vom 10. Dezember 2021 bis 2. Februar 2022. Dazu konnten Schulen ihre Projekte zu den Themen „Demokratie in Schule“, „Gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit“, „Mobbing“ und „Antisemitismus“ einsenden. Aus einer Vielzahl an Projekten wurde laut Schulministerium NRW eine Vorauswahl von 30 Projekten getroffen, von denen fünf ausgezeichnet wurden.

„Demokratie ist keine Selbstverständlichkeit mehr“

„Wünschst du dir am HHG Bottrop mehr Aktionen zu Demokratieförderung?“, lautete eine Frage. Rund 55 Prozent der Schüler bejahten die Frage, rund 7 Prozent verneinten sie und rund 38 Prozent war es egal, ob es mehr Demokratieförderung am HHG Bottrop gibt. Zu der gleichgültigen Haltung sagt der Schülersprecher: „Aber wenn 37,7 Prozent unserer Schülerinnen und Schüler sagen, dass ihnen das egal ist, dann ist das beängstigend. Denn Demokratie ist heutzutage keine Selbstverständlichkeit mehr und muss auf jeden Fall gefördert werden.“ Demokratie muss in den Augen des Schülersprechers gefördert werden, weil für ihn Grundrechte wie Meinungsfreiheit, Pressefreiheit, Religionsfreiheit und Wahlfreiheit zählen. „Mein bester Freud wählt eine andere Partei als ich. Aber wir respektieren die Meinung des Anderen“, sagt Jacob Schraven.

Schützen Aktionswochen für mehr Demokratie und Respekt die demokratische Gesellschaft und die demokratischen Institutionen in Zukunft besser gegen extremistische Ideologien? Laut der Kulturministerkonferenz (KMK) muss Schule ein Ort sein, an dem demokratische und menschenrechtliche Werte und Normen gelebt, vorgelebt und gelernt werden ‒ so heißt es in einem Beschluss der KMK von 2018. Jacob Schraven zeigt sich „sehr zufrieden“ mit der Demokratie am HHG Bottrop. Er verweist auf die Schülervertretung (SV), die gute Kooperation der Schülersprecherinnen und Schülersprecher miteinander, ausreichend Gelder für die SV-Arbeit und den Zusammenhalt, den SV-Fahrten brächten. Mehr noch: „Der Schulleiter hat uns gesagt, dass er eine offene Tür hat, wir einen offenen Zugang haben, wenn wir Kritik äußern oder Verbesserungsvorschläge machen wollen“, so Jacob Schraven.

„Als SV haben wir jetzt mehr Unterstützung und mehr politische Debatten in der Schule“

Das Engagement der SV des HHG Bottrop gegen Diskriminierung und für mehr Demokratie im Rahmen der Aktionswochen „Demokratie und Respekt“ hat sich Jacob Schravens Augen gelohnt. Die Aktionswoche des Schulministeriums NRW vermittele das Gefühl, dass sich die Bildungspolitik für die Meinung der Schülerinnen und Schüler interessiere. „Man merkt es an der SV-Arbeit, wir haben mehr Unterstützung der Schülerinnen und Schüler, einen intensiveren Austausch und mehr politische Debatten“, stellt Jacob Schraven fest.

„Als Bilanz der ‚Wochen für Demokratie und Respekt‘ ist die hohe Relevanz einer gegenseitig positiv wertschätzenden Haltung aller am Schulleben Beteiligten festzuhalten, um eine Schulkultur zu ermöglichen, in der Akzeptanz und Vielfältigkeit gelebt werden können“, heißt es aus dem Schulministerium NRW.
Aber es gibt auch kritische Stimmen unter den Schülerinnen und Schülern. So entspräche der  demokratische Anspruch, den die KMK im Jahr 2018 formuliert hat, nicht der schulischen Wirklichkeit, wie sie die Landesschüler*innenvertretung Nordrhein-Westfalen wahrnimmt. „Aktionswochen und Demokratieprojekte können nicht kompensieren, was grundlegend falsch läuft“, findet Phil R. Weber, dessen Vorstandsmitglied und ergänzt: „Die punktuelle Hervorhebung von demokratischen Werten verläuft entgegen dem antidemokratischen Schulalltag.“

Wertschätzung statt Verächtlichmachung der Demokratie

Ausgewogener bewertet Bettina Zurstrassen, Professorin für Fachdidaktik der Sozialwissenschaften an der Universität Bielefeld, Projektwochen für Demokratie und Respekt. „Wir benötigen unbedingt eine grundlegende gesellschaftliche Debatte über soziale Werte und Normen, die das Leben in einer freiheitlichen Demokratie lebens- und erhaltenswert für alle machen.“ Dazu bedürfe es Zeit zum Austausch, die bei Aktionswochen eröffnet werden könnten. Nachhaltig würden die Impulse, die von diesen Aktionswochen ausgehen könnten, an den Schulen aber nur, wenn diese in einen Entwicklungsprozess hin zu einer weiteren Stärkung einer demokratischen Schulkultur mündeten. „Geschieht das nicht, geraten die Aktionswochen zu einer Alibiveranstaltung“, so Bettina Zurstrassen.

An Zeit zur Planung und Durchführung des Demokratieprojektes anlässlich der landesweiten Aktionswochen hat es den Schülerinnen und Schülern am HHG Bottrop offensichtlich gefehlt. „Wir hatten sehr wenig Zeit, es war stressig“, kritisiert Jacob Schraven den engen zeitlichen Rahmen der landesweiten demokratischen Aktionswochen. Die SV des HHG Bottrop hätte etwa abends bis 18 Uhr tagen müssen, um die Umfrage zur Diskriminierung fertigzustellen. „Demokratie braucht Zeit“, so Jacob Schraven. Das Schulministerium NRW hat angekündigt zu prüfen, wie die „Aktionswochen für Demokratie und Respekt“ fortgeführt und ausgeweitet werden können.

Systemische Extremismusprävention

Weil Demokratie eine herausfordernde gesellschaftliche Idee und Staatsform sei, müsse Demokratie an Schulen gestärkt werden, stimmt Zurstrassen der Landesschüler*innenvertretung NRW zu. Über eigenes schulisch-politisches Handeln könnten Schülerinnen und Schüler auch lernen, wie herausfordernd, schwierig und frustrierend politisches Engagement sein könne, etwa bei der Kompromissfindung. Außerdem fordert die Sozialwissenschaftlerin, dass „politisch-demokratische Bildung ein Hauptfach sein sollte, kein Nebenfach“. Das würde auch zeitliche Ressourcen eröffnen, intensiver mit außerschulischen Institutionen und Organisationen zu kooperieren und außerschulisches politisches Engagement zu begleiten.

Das Schulministerium NRW verweist auf die randständig verschiedenen Partnerinnen und Partnern hin, mit denen es auch bundesweit auf dem Feld der Demokratiebildung zusammenarbeitet. So unterstützt es das Kooperationsprogramm OPENION der Deutschen Kinder- und Jugendstiftung. Dabei erproben Kinder und Jugendliche zwischen zehn und 16 Jahren in über 200 Projektverbünden zusammen mit ihren erwachsenen Begleiterinnen und Begleitern zeitgemäße Praxisprojekte der Demokratiebildung. Darüber hinaus können alle Schulen in Nordrhein-Westfalen in allen 54 schulpsychologischen Beratungsstellen Unterstützung durch die „Fachkräfte für Systemische Extremismusprävention“ („SystEx“) erhalten, die mit erfahrenen sozialpädagogischen Fachkräften oder Beratungslehrkräften besetzt worden sind.

Die Lügen von gestohlenen Wahlen könnten weiter Schule machen

Seit der Erstürmung des Capitols in den USA 2021 und dem Angriff auf die demokratischen Institutionen in Brasilia steht viel auf dem Spiel. Die Lügen von den gestohlenen Wahlen, verbreitet durch Trump und Bolsonaro, werden weiter Schule machen. „Washington und Brasilia zeigen, dass sich so etwas wiederholen kann und es regelmäßig Sturm auf Demokratien geben wird – das ist ein Warnsignal“, sagt Jacob Schraven vom HHG Bottrop. Aber er meint auch, in europäischen Ländern seien Demokratien stabiler als etwa in Amerika.

Laut Zurstrassen müssen Fake News, Ideologisierung und Demokratiefeindlichkeit zum Gegenstand des Unterrichts gemacht werden. Es bedürfe einer medienkritischen politischen Bildung. „Politiklehrkräfte müssen hierbei auch ihren Umgang mit Fake News, Ideologisierung und ihr Verhältnis zur Demokratie reflektieren“, so Zurstrassen. Es braucht also in Zukunft viel Ausdauer, Wachsamkeit und soziales Engagement gegen Demokratiefeindlichkeit und grassierende Respektlosigkeiten im öffentlichen Leben.  

Arnd Zickgraf

Kompakt
Politische bzw. gesellschaftspolitische Bildung ist als fächerübergreifende Aufgabe bundesweit fester Bestandteil aller Lehrpläne der Sekundarstufe I. Die Demokratiebildung zählt dabei mit zu den wichtigsten Schwerpunkten der Allgemeinbildung. Um eine eigene politische Position zu entwickeln, brauchen Lernende einen handlungsorientierten Unterricht mit motivierenden Angeboten. Die Aktionswochen für Demokratie und Respekt in NRW sind dafür eine Möglichkeit.

Buchtipp:
In einer Demokratie geht es um Entscheidungen, das fängt schon in Familie, Schule und Freundeskreis an. Damit starten z. B. Lernende in Klasse 5 im neuen Lehrwerk Projekt G Gesellschaftswissenschaften (ISBN: 978-3-12-408809-3) für Berlin/Brandenburg. Ansatzpunkte für die Demokratiebildung bieten auch Fächer wie Geschichte, Deutsch oder Ethik mit ihren Materialien.