Klett-Themendienst Nr. 120 (02/2024)

Das Wasser schwappt einem um die Füße, wenn man Unterricht hat. Biologie wird anhand von fliegenden Fischen erklärt, die auf dem Segelschiff landen. Dr. Ruth Merk, Leiterin des Projektes „Klassenzimmer unter Segeln“ über Unterricht und Alltag an Deck, Grenzerfahrungen, menschliche Reifeprozesse und warum die Umwelt ein guter Lehrer ist. 

Was motiviert Lehrkräfte, unter Segeln zu unterrichten?

Diese Frage habe ich mir vor 24 Jahren gestellt, als ich noch im Schuldienst tätig war. Ich habe schon damals sehr gerne mit Jugendlichen gearbeitet, jedoch kam im schulischen Alltag die Zeit, sich mit den Schülerinnen und Schülern über den Unterricht hinaus zu beschäftigen meistens etwas zu kurz. Ich suchte nach einer Möglichkeit, meine fachliche Expertise einzubringen und gleichzeitig mehr Raum dafür zu haben.  Wenn ich heute mit Lehrkräften spreche, dann ist das genau das, was sie motiviert. Sie wollen mehr als nur ihre fachliche Expertise einbringen können. Klassenzimmer unter Segeln hat einen ganzheitlichen Ansatz, ähnlich dem Ansatz von reformpädagogischen Schulen. Natürlich ist es auch spannend, einmal etwas ganz anderes zu erleben, wie zum Beispiel das Setting auf einem Segelschiff, auf dem es jedoch auch einen Alltag gibt. Mit einem traditionellen Schiff um die Welt zu segeln ist zwar ein großer Reiz, aber es gibt auch Personen, die von der Enge und der Reduktion auf das Wesentliche abgeschreckt werden. Das kann sich nicht jeder vorstellen.

Wie teilt sich die Zeit der Lehrkräfte zwischen Unterrichtsvorbereitung, Unterricht, Arbeiten und Leben an Bord auf?

Die Lehrkräfte müssen den Unterricht vor der Reise geplant und vorbereitet haben, da sie auf dem Segelschiff nicht nur als Lehrkräfte, sondern auch als Besatzungsmitglieder gefordert sind. Das bedeutet, dass sie in den ganz normalen Schiffsalltag integriert sind. In der ersten Etappe geht es vor allem um das Kennenlernen des Schiffsbetriebes. In dieser Phase haben die Lehrkräfte – wie auch die Jugendlichen – täglich sechs Stunden Wache, zwei Stunden nautische Theorie und eine Stunde Putzen des Schiffes. Einmal in der Woche absolviert die Lehrkraft gemeinsam mit drei Jugendlichen den Kombüsendienst und verpflegt an diesem Tage die gesamte Besatzung von 50 Personen. Wenn der klassische Unterricht beginnt, so klassisch ist der Unterricht nun auch nicht, werden sie je nach Stundenumfang von der Schiffs- und Betreuungsarbeit freigestellt. Eine Lehrkraft hat dann drei bis vier Stunden Schiffsdienst und ein bis zwei Stunden Unterricht pro Tag.

Was ist das Besondere bei Klassenzimmer unter Segeln?

Im normalen schulischen Kontext wird zum Teil auch darauf geachtet, dass der Unterrichtsstoff auf den Alltag übertragen wird bzw. diesen integriert. Wir haben den Lehrplan bewusst so gestaltet, dass vieles, was uns umgibt, zum Gegenstand des Unterrichts wird. Wenn zum Beispiel eine Welle an Bord schwappt oder Wale am Bug auftauchen, werden diese zum Inhalt des Unterrichts.  Wie alle Schulen wollen wir junge Menschen auf das Leben als junge Erwachsene vorbereiten, wir nutzen jedoch die verstärkt die Chance, dass Ereignisse, die uns begegnen und den Alltag, der uns umgibt, konkret in den Unterricht einbezogen werden.

Inwiefern erfassen die Schülerinnen und Schüler bei der Schiffsreise besser den Sinn des Lernens?

Indem das, was die Jugendlichen unmittelbar wahrnehmen und erleben, zum Unterrichtsgegenstand gemacht wird. Wenn wir im tropischen Regenwald sind, werden wir etwa mit der Gefährdung des Regenwaldes konfrontiert und besprechen dies.  Wenn wir auf dem Atlantik sind, nehmen wir Wasserproben, untersuchen diese unter dem Mikroskop und erfahren direkt die Mikroplastikproblematik in unseren Meeren.  Wir merken an dem Interesse der Schülerinnen und Schüler, das sich in vielen Nachfragen äußert, dass sie sich intensiv mit den Unterrichtsthemen auseinandersetzen. Die Schiffsroute führt den jungen Menschen in vielen Aspekten unmittelbar die Herausforderungen unserer Zeit vor Augen. Leben und Lernen ist bei uns eng verknüpft und diese Verknüpfung gibt dem Lernen einen Sinn.

Englischlernen auf hoher See

Englischlernen auf hoher See

Was sind die Vor- und Nachteile des Unterrichtens auf dem Segelschiff?

Der Vorteil ist, dass man den Unterrichtsstoff vor der Nase hat. Wenn etwa fliegende Fisch an Bord kommen, dann macht der Biologielehrer das am nächsten Tag zum Unterrichtsgegenstand. In solchen Situationen muss die Lehrkraft flexibel bleiben, die besondere Situation wahrnehmen, gestalten und in den Unterricht integrieren. Der Nachteil ist eine Umgebung, die mitunter so viel Ablenkung bietet, dass es den Jugendlichen schwerfällt, sich auf den Unterrichtsstoff zu konzentrieren. Manchmal treten Schwierigkeiten auf, die es erschweren, den Unterricht situationsgerecht zu gestalten. Bei starken Winden muss die Lehrkraft beispielsweise aufpassen, dass das Unterrichtsmaterial nicht weggeweht wird.

Wie schaffen es die Lehrkräfte, Schülerinnen und Schüler in schwierigen Situationen zum Lernen zu motivieren?

Unsere Teilnehmerinnen und Teilnehmer durchlaufen ein zweistufiges Bewerbungsverfahren. Es bewerben sich Jugendliche, die mehr wollen als die normale Schule, die sich für die Welt und das Weltgeschehen interessieren und die gefordert werden wollen. Im Durchschnitt sind dies gute bis sehr gute Schülerinnen und Schüler. Die Motivation ist also nicht das Problem. Es sind eher die primären Bedürfnisse der Jugendlichen, die unter bestimmten Umständen nicht befriedigt werden können, wie zum Beispiel Unwohlsein bei Seekrankheit oder Schlafmangel. Dies kann zu Motivationsproblemen führen. Da auf dem Segelschiff vor allem Themen unterrichtet werden, die die Jugendlichen persönlich erleben, ist das Interesse grundsätzlich hoch.

Was brauchen Lehrkräfte, wenn Jugendliche eine Grenzerfahrung durchleben, wenn sie nicht mehr wollen oder überfordert sind?

Als Lehrkraft oder Betreuer muss man zunächst wahrnehmen, dass sich ein Jugendlicher in einer bestimmten Situation nicht wohl fühlt. Die Lehrkraft muss in der Lage sein, den Blick von sich selbst weg und auf die Umgebung richten zu können. In herausfordernden Situationen benötigen Menschen unterschiedliche Unterstützung: Der eine benötigt vielleicht Zuwendung, der andere eine rationale Erklärung, um mit der Situation besser umgehen zu können. Wieder ein anderer muss aus der Situation herausgeholt werden. Es gibt nicht nur einen Weg, Grenzerfahrungen zu begleiten. Grundsätzlich geht es darum, die Situation erst einmal wahrzunehmen, zu akzeptieren und entsprechend zu reagieren, damit Selbsterfahrung möglich wird. Wir wollen Selbsterfahrung ermöglichen und auch motivieren, Grenzen zu erfahren und zu erweitern. Auch mit Ermutigungen wie „Komm, du schaffst das schon, so schlimm ist es nicht!

Welche mentale Einstellung brauchen die Lehrkräfte, um so etwas zu bewältigen?

Sie sollten offen sein für Neues und gerne in Gemeinschaft sein. Sie sollten auch mit Grenzerfahrungen umgehen können, weil jeder und jede aufgrund des engen Zusammenlebens auch mit den Jugendlichen sowie den außergewöhnlichen Rahmenbedingungen an seine Grenzen kommen wird. Die Lehrkräfte benötigen für sich Strategien, wie sie mit solchen Erfahrungen umgehen. Jemand, der es bei Stress gewohnt war, eine Runde joggen zu gehen, der muss an Bord darauf verzichten. Sie müssen andere Strategien entwickeln, wie zum Beispiel Tagebuch schreiben, Bücher lesen oder Musik hören.

Wie wirkt sich die Reise mit dem Schulschiff auf die Persönlichkeit der Schüler aus?

Es entstehen keine neuen Menschen mit völlig anderen Charaktereigenschaften. Aber während des halben Jahres auf dem Segelschiff haben die Jugendlichen viele Lernchancen, ihre Potenziale zu entdecken, sich mehr zuzutrauen, flexibler zu agieren bzw. reagieren und ihre Zeit besser einzuteilen. Soziale Kompetenzen wie Konfliktfähigkeit werden trainiert, sie lernen, in einer Gemeinschaft zu leben und sich in diese zu integrieren. Sie erfahren, dass sie sich auf andere verlassen können, wenn sie Hilfe benötigen. Auch die Gemeinschaft außerhalb der sozialen Medien gewinnt an Bedeutung. Von einigen Eltern habe ich gehört, dass sie mit ihren Kindern ein anderes Miteinander pflegen als vor der Reise. Mitunter wird dieses schwieriger, da die Jugendlichen sich ein halbes Jahr lang selbst gemanagt und gelernt haben, Entscheidungen für sich zu treffen. Sie sind selbstbewusster geworden. Teilweise verändert sich nach der Reise auch der komplette Freundeskreis des Jugendlichen, weil sie mit den bisherigen Freunden nicht mehr viel anfangen können. Das ist wahrscheinlich auf einen beschleunigten Reifeprozess zurückzuführen.

Das Gespräch führte: Arndt Zickgraf

Dr. Ruth Merk, Jahrgang 1967, ist die Mitinitiatorin und pädagogische Leiterin von „Klassenzimmer unter Segeln“ (KUS) und verantwortlich für Planung, Organisation und Durchführung des Projektes. Das Konzept für „Klassenzimmer unter Segeln“ entwickelte sie im Rahmen ihrer Promotion im Jahr 2006. Seit 1995 ist sie Gymnasiallehrerin für die Fächer Mathematik und Sport und seit 2007 an der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg tätig und zuständig für das KUS-Projekt. In ihrer Jugend war sie Leistungssportlerin in der Leichtathletik und im Kanupolo.