Zwei Tage Unterricht, drei Tage Praktikum – in Sachsen-Anhalt können potenzielle Schulabbrecher im Rahmen des zweijährigen Modells „Produktives Lernen in Schule und Betrieb“ einen Hauptschulabschluss schaffen.
Letzte Stunde in der 8. Klasse der Ganztagsgemeinschaftsschule Comenius in Salzwedel. Heute ist Valentinstag – und aus diesem Anlass haben die zwölf Jungen und vier Mädchen Zettel gezogen, auf dem der Name eines Klassenkameraden steht. Die Aufgabe: Ein Herz aufmalen und ein Kompliment für die jeweilige Person aufschreiben. Die Begeisterung hält sich in Grenzen. „Muss nicht stimmen, oder?“, fragt einer in die Runde, ein anderer stöhnt: „Ich kann kein Herz malen.“ Nacheinander sollen die Schülerinnen und Schüler aufstehen und vorlesen, was auf dem Zettel steht. „Du bist ein cooler Typ“ oder „Du bist sehr sympathisch“ – solche Komplimente gehen schnell von den Lippen. Schwieriger wird es für einige Jungen, die eine Mitschülerin gezogen haben. Beim Satz „Du hast eine tolle Ausstrahlung“ oder „Du hast einen Traumkörper“ wird manches Gesicht rot.
Jugendliche, die nicht ins Schulsystem passen

Gemeinschaftsschule Comenius
Über Gefühle sprechen – das ist das Ziel von Kirsten Hartwich. Sie unterrichtet mit Stefanie Lerche zusammen eine so genannte Produktives Lernen (PL)-Klasse: Schüler:innen ab 14 Jahre aufwärts, deren Hauptschulabschluss gefährdet ist. Weil sie in der Vergangenheit die Schule geschwänzt haben. Wegen häufiger Krankheitstage. Auf Grund nicht ausreichender Deutschkenntnisse. Weil sie immer wieder durch Disziplinprobleme auffallen. Wegen Lern- und Konzentrationsschwächen. „Das sind Jugendliche, die nicht ins Schulsystem passen“, sagt Lerche und betont: „Es geht oft nicht um fehlende Leistungen, sondern um ein niedriges Selbstwertgefühl, etwa weil in der Vergangenheit andere Schüler und auch Lehrer abschätzig auf sie reagierten.“
Gemeinsame Erfahrung der Ablehnung
Daraus entwickelten sich oft Konflikte – zu denen kann es bei kontroversen Themen mitunter auch in der PL-Klasse kommen kann, wenn die Emotionen hochkochen. Dann machen die Lehrerinnen schnell deutlich, dass sie auf einen respektvollen Umgang Wert legen. Hartwich betont gleichzeitig, wie wichtig Lob und Mutmachen sind, weil Schule bislang nur mit Versagen verbunden ist: „Bei uns fangen alle bei Null an. Sie erfahren in dieser Klasse Wertschätzung und entdecken positive Seiten an sich. Der Zusammenhalt in der Klasse ist groß, denn die gemeinsame Erfahrung der Ablehnung schweißt zusammen.“
Produktives Lernen in Schule und Betrieb
PL-Klasse – das ist die Abkürzung für „Produktives Lernen in Schule und Betrieb“. In Sachsen-Anhalt bieten 24 Schulen solche Klassen an, die über zwei Jahre laufen. Kleine Klassen, die zum Teil von zwei Lehrkräften unterrichtet werden. Zum Konzept gehört der Unterricht an zwei Tagen die Woche in den Fächern Deutsch, Mathe, Englisch und Gesellschaftswissenschaften. Prüfungen und Klassenarbeiten gibt es keine, dafür aber viele rund 15-minütige Präsentationen zu selbst gewählten Themen, die benotet werden. Am Ende muss man die Hälfte der möglichen Punkte erreicht haben, um nach Klasse Neun einen Abschluss zu bekommen, der einem Hauptschulabschluss entspricht.
Praktika und Ausbildungsvorbereitung
An den übrigen drei Wochentagen machen die Schüler in selbst ausgewählten Betrieben Praktika über jeweils drei Monate. Insgesamt lernen sie so sechs verschiedene Betriebe kennen, ihre Erfahrungen stellen sie in der Klasse vor. „Diese Praktika sind sehr wichtig für die Motivation. Die Schüler können dabei entdecken, welcher Beruf ihnen liegt. Arbeitgeber lernen die Jugendlichen näher kennen und finden so oft geeignete Auszubildende. Noten spielen dabei für Chefs oft nur eine untergeordnete Rolle“, sagt Hartwich.
Der 15-jährige Liron absolviert derzeit ein Praktikum beim Bund für Umwelt und Naturschutz Deutschland beim Projekt Grünes Band: An der einstigen innerdeutschen Grenze gibt es durch die lange Unzugänglichkeit mehr als 1000 seltene Tiere und Pflanzen, die durch den BUND-Einsatz geschützt werden sollen. „Das Praktikum gefällt mir gut“, sagt Liron, der nach dem Ende der Schulzeit eine Ausbildung zum Sozialassistenten machen möchte. An seinen früheren Schulen hatte er oft Ärger, weil er sich nicht konzentrieren konnte und den Unterricht gestört hat. „Hier komme ich besser klar, ich fühle mich wohler.“
Unterricht: Nah an den Bedürfnissen der Lerngruppe
Das bestätigt Cedric, der an seiner alten Schule wegen einer Sechs in Mathematik die Versetzung nicht geschafft hat. „Ich habe mich ausgeschlossen gefühlt, weil ich so schlecht in Mathe war. Hier erklären die Lehrerinnen den Stoff besser und die Atmosphäre in der Klasse ist besser“, sagt der 16-Jährige. Er macht gerade ein Praktikum in einem Baumarkt und kann sich vorstellen, später mit einer Ausbildung zum Lageristen zu beginnen. Die Praktika spielen auch im Schulunterricht eine Rolle – an Aufgaben aus dem betrieblichen Alltag lernen Schülerinnen und Schüler beispielsweise, wie man bestimmte Berechnungen durchführt. Zur Motivation trägt auch bei, dass die eigenen Interessen gefördert werden. Nach Schulschluss um 12.30 Uhr arbeiten Cedric und Liron noch eine Stunde allein im Computerraum an der Präsentation zu ihren selbst gewählten Themen wie 1. FC Magdeburg bzw. Skinheads.
Feste Bezugspersonen für bessere Leistungen

Reflexion am Ende des Schultags
Nebenan im Klassenraum stehen Lerche und Hartwich als Ansprechpartnerinnen bereit. Sie besprechen miteinander den Schultag, der wie immer mit einer Abschlussrunde endet. Dabei soll jeder Jugendliche sein heutiges Verhalten und seine Leistung einschätzen. Habe ich aufgepasst? War ich pünktlich? Habe ich alles für den Unterricht dabeigehabt? Jeder schlägt eine Punktzahl vor, die von Lerche und Hartwich bestätigt werden muss. Niemand schätzt sich besser ein als ihre Lehrerinnen, wenige beurteilen sich negativer und die Lehrkräfte korrigieren die Punkte nach oben, mit Hinweisen wie „Nicht ablenken lassen“ oder „Bring beim nächsten Mal einen Pullover mit, damit du nicht frierst“. Hartwich und Lerche sind in den zwei Jahren die einzigen Lehrkräfte in der PL-Klasse. „Dadurch haben wir eine sehr enge Beziehung zu den Jugendlichen. Das ist für viele von Vorteil, weil für sie feste Bezugspersonen wichtig sind“, sagt Hartwich.
Fast jeder Abgänger findet einen Ausbildungsplatz
Neben Sachsen-Anhalt bieten Schulen in Sachsen, Brandenburg, Thüringen, Mecklenburg-Vorpommern, Berlin und Schleswig-Holstein das Produktive Lernen mit einem ähnlichen Konzept an. Die Universität Magdeburg hat in einer Begleituntersuchung festgestellt, dass 76 Prozent der Schülerinnen und Schüler aus den PL-Klassen in Sachsen-Anhalt einen Schulabschluss schaffen, der mit einem Hauptschulabschluss vergleichbar ist. Lerche ergänzt: „Von unseren Abgängern hat fast jeder einen Ausbildungsplatz bekommen.“
Rund 50 000 Jugendliche verlassen bundesweit jedes Jahr am Ende ihrer Pflichtschulzeit die Schule ohne Hauptschulabschluss. Der Anteil der Jungen liegt bei 60 Prozent und ist bei Jugendlichen mit Migrationshintergrund dreimal so hoch wie bei Gleichaltrigen ohne Migrationshintergrund. Bundesweit verließen zuletzt rund sechs Prozent der Schülerinnen und Schüler ohne Abschluss die Schule, in Sachsen-Anhalt waren es 2022 genau 11,6 Prozent. Auch in den anderen ostdeutschen Bundesländern lag der Wert deutlich über dem Durchschnitt.
Autor: Joachim Göres
Kompakt
Schülerinnen und Schüler, bei denen der Hauptschulabschluss gefährdet ist, können an 24 Schulen in Sachsen-Anhalt im zweijährigen Modell „Produktives Lernen“ einen gleichwertigen Abschluss schaffen und so ihre Chancen auf einen Ausbildungsplatz verbessern. Zwei Tage in der Woche haben sie Unterricht in Mathe, Deutsch, Englisch und Gesellschaftswissenschaften, drei Tage machen sie Praktika in Betrieben. Statt Prüfungen und Klassenarbeiten gibt es regelmäßig Präsentationen zu selbst gewählten Themen. Zum Konzept gehören zudem kleine Klassen und eine enge Bindung zwischen den Jugendlichen und den Lehrkräften.