Klett-Themendienst Nr. 100 (06/2021)

Um Themen wie Geschlechtergerechtigkeit, Vielfalt der Kulturen oder Kolonialismus kreisen teils heftige Debatten, die an Bildungsmedien verschiedenster Fächer nicht achtlos vorbeiziehen. Wie gesellschaftliche Aushandlungsprozesse in Lernmaterialien berücksichtigt werden, dazu ein Gespräch mit Lorenz Steinert, Gruppenleiter beim Ernst Klett Verlag im Programmbereich Gesellschaftswissenschaften.

Herr Steinert, Bildungsmaterialien stehen immer mal wieder im kritischen Blick der Öffentlichkeit, insbesondere wenn es um aktuelle Debatten geht. Fühlen Sie sich unter Druck gesetzt?

Im besten Sinne: Ja. Wir erleben eine in wichtigen Fragen wache Öffentlichkeit, aus der immer wieder konstruktive Impulse für Weiterentwicklungen unserer Produkte kommen. Das setzt uns unter Druck, denn wir wollen den Anforderungen und der Verantwortung, die mit unseren Bildungsmedien einhergeht, gerecht werden.

An welche jüngsten Beispiele denken Sie dabei?

Wir haben z.B. im Fach Geographie in der Vergangenheit Nachfragen zu Darstellungen im Themenfeld „Afrika“ erhalten. In früheren Lehrwerken finden sich gut gemeinte Formulierungen und Bildauswahlen, die heute als unpassend erkannt werden. Etwa wenn Menschen und Kulturen exotisiert werden. Oder wenn durch eine Fokussierung auf Themen wie Hunger und Krieg die gesellschaftlichen Normalitäten in den vielen und so diversen Ländern und Kulturen Afrikas nicht hinreichend vorgestellt werden. In unserem neuesten Buch, das sich dem afrikanischen Kontinent und seinen Menschen ausführlich widmet, „Terra Sachsen 7“, haben wir diese und andere Impulse aufgegriffen. Unsere Autor:innen haben in Zusammenarbeit mit zwei fachlichen Berater:innen und der Redaktion die drei Kapitel zu besagtem Themenfeld grundlegend überarbeitet. Vereinfacht ausgedrückt war es wichtig, keine Klischees über Afrika zu reproduzieren und unsere eurozentristische Perspektive, wo immer möglich, abzulegen.

Was unterscheidet Ihre Arbeit heute von der vor ca. 10–15 Jahren?

Damals wie heute tun alle Beteiligten ihr Bestes, um didaktisch wertvolle und inhaltlich korrekte Bildungsmedien zu entwickeln. Damals wie heute werden die Inhalte von Menschen entwickelt, die Expert:innen in ihrem jeweiligen Fachgebiet sind – ein Geschichtslehrwerk zum Beispiel wird von Geschichtslehrer:innen verfasst, und auch in den Redaktionen arbeiten ausgebildete Historiker:innen. Heute wissen wir aber – wie könnte es anders sein – sehr viel mehr. Wahrnehmungen, Deutungen und Fragestellungen von Forschung und Gesellschaft haben sich weiterentwickelt. Und auch die Form des Diskurses hat sich verändert: Die sozialen Medien und die digitalisierte Medienlandschaft greifen deutlich schneller als früher Themen und Stimmungen auf und messen unsere Bildungsmedien daran. Weil unsere Produkte lange Nutzungsdauern haben fordert uns das heraus. Das sorgt dafür, dass wir die ausgewogene, multiperspektivische Darstellung unserer Inhalte immer wieder kritisch auf den Prüfstand stellen.

Über Ihren Tisch gehen unzählig viele Unterrichtsmaterialien. Wie stellen Sie sicher, dass diese frei von Rassismus in Bild und/oder Text sind? Gibt es dafür eigene Prozesse?

Der wichtigste Punkt ist vielleicht der: Wir haben für uns erkannt, dass wir als Menschen, die in einer Gesellschaft aufgewachsen sind, in der es strukturellen Rassismus gibt, auch unbeabsichtigt rassistische Aussagen, Motive und Stereotype über unsere Bildungsmedien transportieren. Wir informieren uns diesbezüglich, wir veranstalten Workshops mit Expert:innen, wir lernen jeden Tag dazu. Um ganz sicher zu gehen, haben wir klare Regeln entwickelt, welche Seiten nicht „nur“ von Autor:innen und Redakteur:innen gelesen werden, sondern auch von Dritten geprüft werden. Gemeinsam mit der Redaktion wird die Entscheidung gefällt, ob externe Berater:innen für ein kritisches, themenspezifisches Lektorat hinzugezogen werden. Das kann je nach Thema und Projekt noch vor Beginn der Manuskriptarbeit geschehen oder im Laufe der Arbeit. Trotz dieser „Sicherheitsmechanismen“ muss ich trotzdem davon ausgehen, dass sich struktureller Rassismus leider nicht von heute auf morgen ausschalten lässt, auch wenn wir uns das wünschen. Doch unser Ziel ist allen Beteiligten klar: Bildungsmedien frei von Rassismus zu halten.

Sprache prägt uns, auch noch nach Jahrhunderten. Wie gelingt eine kritische Auseinandersetzung im Redaktionsalltag?

Sprache kann unmittelbare aber auch zunächst unterschwellige Botschaften transportieren. Wir versuchen uns diese eher unterschwelligen Botschaften bewusst zu machen und ersetzen entsprechende Formulierungen, wann immer wir sie als unangemessen identifizieren. Ein gutes Beispiel dafür ist die bislang verbreitete Bezeichnung des Widerstands der Herero. Dieser wurde – auch in unseren Bildungsmedien – als „Aufstand“ bezeichnet. Allein dieses Wort hat das Auflehnen der Herero gegen die Unterdrückung und die Tyrannei der deutschen Kolonialisten abgewertet. Das ist eine Form des Framing, die wir inzwischen zu vermeiden versuchen. Ein anderes Beispiel ist die „Entdeckung“ Amerikas durch Kolumbus. Es ist zwar richtig, dass Kolumbus den amerikanischen Kontinent für die Europäer entdeckt hat. Aber der Begriff „Entdeckung“ ist perspektivisch. Es ist wichtig, den Schüler:innen diese Perspektivität bewusst zu machen und – wo immer es geht – andere Perspektiven dagegen zu stellen.

Wieviel Freiheiten hat eine Redaktion für Bildungsmedien, auf Diskurse einzugehen?

Die von Ihnen angesprochenen Freiheiten hängen von mehreren Faktoren ab, allen voran die jeweiligen Lehrplanvorgaben und Genehmigungsverfahren. Es gibt Bundesländer, in denen klar geregelt ist, welche Inhalte in welcher Unterrichtsstunde zu behandeln sind. Andere Lehrpläne bieten größere Freiheiten, die wir entsprechend nutzen. So konnten wir in der neuen Ausgabe unseres Geschichtslehrwerks „Zeitreise“ für NRW eine Doppelseite zum Sturz des Denkmals für den Sklavenhändler Edward Colsten in Bristol im Jahr 2020 realisieren. Dieses konkrete Beispiel zu nennen fordert der Lehrplan nicht, er lässt aber auch die Freiheit, es zu tun.

Sie sprachen bereits vom langen Verbleib der Bildungsmedien in den Schulen. Welche Möglichkeiten hat ein Verlag neben dem Nachdruck, Änderungen in seinen Materialien vorzunehmen?

Ich gehe davon aus, dass eine fortschreitende Digitalisierung von Unterricht neue Möglichkeiten eröffnen wird, Inhalte in kürzeren Zeiträumen anzupassen und mit Updates zu versehen. Bis diese Möglichkeiten allein von der Infrastruktur her ausgeschöpft werden können, würde ich mir wünschen, Lehrer:innen und Schulen bekämen die Chance, in kürzeren Intervallen als den teilweise durchaus üblichen zehn, zwölf Jahren Lehrwerke auch in den Nebenfächern auszutauschen. In dieser Zeit können sich Perspektiven und Fragestellungen in erheblichem Maße ändern. Das betrifft nicht nur den Umgang mit Themen wie Dekolonialismus oder Rassismus, sondern auch die Demokratiebildung oder die Nachhaltigkeit. Ich wünsche allen Schüler:innen, dass sie gerade in den so wichtigen gesellschaftswissenschaftlichen Fächern bestens auf die Herausforderungen der Gegenwart und Zukunft vorbereitet werden.

Vielen Dank für das Gespräch!