Klett-Themendienst Nr. 103 (11/2021)

Das Thema Unterrichten in heterogenen Lerngruppen ist ein bildungspolitisches Dauerthema. Die auch in der Lehrerausbildung tätige Lehrerin Susanne von Treeck findet es selbstverständlich, dass sich Lehrkräfte als Profis für Unterricht eine differenzierte Haltung zu den Lernenden erarbeiten.

Wenn über Differenzierung im Unterricht gesprochen wird, dann geht es häufig um die Einteilung in Lerngruppen nach der Leistungsfähigkeit von Schülerinnen und Schüler. Welche weiteren Differenzierungsmöglichkeiten bietet eine moderne Didaktik?
Heute versuchen wir, das Lernen umzukehren. Das heißt, wir versuchen die Lernenden zu befähigen, die Inhalte selbst zu recherchieren und dabei verschiedene Lernkanäle  kennenzulernen und zu nutzen. Es geht uns Lehrkräften darum, das entdeckende Lernen mit den neuen Medien zu verknüpfen.

Wir leiten die Heranwachsenden dazu an, sich das Wissen – das sie sich etwa über Texte, Tutorials, Podcasts oder Filme angeeignet haben – nutzbar zu machen.  Im Unterricht wenden die Lernenden das Gelernte an, üben es, diskutieren und kommen erst dann mit ihren Fragen auf uns zu. Für diese Art des differenzierten Herangehens geben uns die Lernpläne große Freiheiten, wenn diese auch je nach Fach nicht unbedingt gleich groß sind; in Deutsch sind die Möglichkeiten z. B. umfassender als in einer Naturwissenschaft. Aber auch dort geht es darum, die Spielräume für differenziertes Lernen zu erkennen und zu nutzen.

Kann man differenziert unterrichten gleich setzen mit kompetenzorientiert unterrichten?

Der kompetenzorientierte Unterricht ist das Ziel jeden Unterrichts, das differenzierte Unterrichten ist der Weg dorthin. Je erfahrener eine Lehrkraft ist, umso größer ist idealerweise ihre Methodenkompetenz und damit auch ihr Repertoire, differenziert zu unterrichten. Für den geschulten Blick auf die Lernenden brauchen Lehrkräfte aber ein Wissen, das über den Unterricht hinausgeht. Sie sollten z. B. aus dem Studium an der Uni noch etwas über Lerntheorien oder Entwicklungstheorie nach Piagét behalten haben, um etwa zu erkennen, warum ein z. B. früh eingeschultes Kind mit guten Noten beim Übergang auf die weiterführende Schule plötzlich Probleme in Mathe hat. Die Diagnosefähigkeit des Lehrenden als Grundlage für einen differenzierten Unterricht beruht also nicht nur auf guten fachlichen Kenntnissen, sondern auch auf ein gutes theoretisches Grundlagenwissen im Bereich der Bildungswissenschaften.

Differenzierung fängt an, wenn Lernende ihre eigenen Fragen erkennen

Woran zeigt sich nach Ihrer Erfahrung ein guter differenzierter Unterricht?

Der zeigt sich daran, dass alle Kinder zu jeder Zeit arbeitsfähig sind. Die Lehrkraft hat dann solche Aufgaben gestellt und Materialien ausgesucht, die es allen Lernenden ermöglichen, arbeitsfähig zu sein. Sie hat den Schülerinnen und Schülern auch ermöglicht, in jenen Sozialformen zu arbeiten, die zum Erkenntnisgewinn und Lernerfolg führen. Sind alle Lernenden arbeitsfähig, gewinnt die Lehrkraft Zeit, sich z. B. 10 Minuten intensiv mit einem Kind zu befassen, das aus unterschiedlichen Gründen Zuwendung braucht; vielleicht, weil es ein Verständnisproblem hat; vielleicht aber auch, weil seine Motivation gerade gering ist. Dies herauszufinden, gehört auch zu einem differenzierten Unterricht.

Sie selbst unterrichten an einer Gesamtschule in Duisburg. Wie sieht bei Ihnen im Unterricht Differenzierung aus?

Ich orientiere mich an dem Leitgedanken von Maria Montessori „Hilf mir, es selbst zu tun. Zeig mir, wie es geht. Tu es nicht für mich.“ Deshalb fängt Differenzierung für mich an, sobald Lernende ihre eigenen Fragen erkennen. Ausgehend von diesen Fragen, die sich in der selbstverantworteten Auseinandersetzung mit einem  Lernstoff entwickeln, kann ich ihnen differenzierte Angebote machen. Ich halte wenig davon, als Lehrerin parat zu stehen, um auf jede Frage sofort eine Antwort zu geben. Das erzieht Kinder und Jugendliche zur Trägheit. Heranwachsende sollen auch lernen dürfen, ein Problem auszuhalten, es von allen Seiten zu betrachten und Lösungen oder Alternativen zu entwickeln. Wenn sie dann nicht weiterkommen, bin ich für sie da.
   
Herausfinden, wen ich unterrichte

Was davon kommt in der Ausbildung von Lehrerinnen und Lehrern an? Sie arbeiten ja auch am Zentrum für schulpraktische Lehrerausbildung (ZfsL) in NRW.

Ich bin sehr angetan davon, dass NRW seit diesem Jahr ein neues Kerncurriculum für die Ausbildung von Lehrerinnen und Lehrer hat. Das Kerncurriculum versteht den Erwerb berufsbezogener Kompetenzen als lebenslange und personalisierte Professionalisierung. Man ist also nicht irgendwann eine „fertige“ Lehrkraft, sondern arbeitet ein Leben lang an seinem professionellen Selbstkonzept. Ziel der Ausbildung ist es, das eigene Lehrerhandeln zu professionalisieren. Gute Lehrer kennen sich selbst und ihre Schülerinnen und Schüler gut. Die Lehramtsanwärter sollen sich mit der Frage auseinandersetzen „Was muss ich im Hinblick auf jede Schülerin/jeden Schüler wissen, um kompetenzorientierten Unterricht planen zu können?“ Im Kerncurriculum wird die differenzierte Analyse der Lernausgangslage als Ausgangspunkt von gutem Unterricht gesetzt. Bevor ich also anfange zu unterrichten, sollte ich erst einmal herausfinden, wen ich da unterrichte. Damit wird nicht zuletzt die Kernkompetenz von Lehrkräften, das Unterrichten, gestärkt.

Kann diese differenzierte Haltung auch eine Überforderung darstellen? Oder anders gefragt: Ist jede Lehrkraft dazu geeignet, in diesem Sinne differenziert zu unterrichten?

Wenn Lehrkräfte sich als Profis für guten Unterricht verstehen wollen, dann kommen sie nicht umhin, sich immer wieder darum zu bemühen. Das darf auch ruhig mal etwas länger dauern. Jede Lehrperson hat ihre eigenen Stärken und Talente, die sie dafür einsetzen kann. Zum Glück erleben die Schülerinnen und Schüler viele verschiedenen Lehrerinnen und Lehrer mit all den unterschiedlichen Stärken.  Es ist wirklich zu bedauern, dass wir Lehrkräfte so wenig Gelegenheit haben, den Unterricht unserer Kolleginnen und Kollegen zu erleben. Wir könnten enorm viel voneinander lernen, wenn wir Unterrichtshospitation verpflichtend einführen würden. Für mich ist jedenfalls klar: Wenn Lernende im Unterricht Probleme haben, dann liegt es nicht an ihnen. Dann stelle ich mir die Frage: Wer ist hier der Profi? Wer kann und muss eine Veränderung herbeiführen? Das bin ja wohl ich.

Das Gespräch führte Inge Michels.

Kompakt
Susanne van Treeck arbeitet an einer Gesamtschule in Duisburg als Lehrerin für Deutsch und Sport und am Zentrum für schulpraktische Lehrerausbildung (ZfsL) in NRW. Zudem ist sie Autorin und hat an dem Differenzierungskonzept von Deutsch kombi plus aus dem Ernst Klett Verlag mitgewirkt. Die engagierte Lehrerin ist davon überzeugt, dass Unterrichten immer dann gut gelingt, wenn Lehrkräfte eine Beziehung zu den Lernenden aufbauen. Darin liegt für sie die Basis für Differenzierung im Unterricht.

Buchtipp:
Das neue Deutsch kombi plus 5 (ISBN: 978-3-12-314461-5) ist die differenzierende Ausgabe für die mittleren Schulformen in NRW für den Übergang von der Grundschule in die Sekundarstufe I. Das Konzept fokussiert sich auf ein mittleres Lern-Niveau und bietet über sein intuitives Differenzierungskonzept Materialien für stärkere und schwächere Lernende. Lehrkräfte beim differenzierenden Unterricht erfolgreich zu unterstützen, steht im Vordergrund des neu überarbeiteten Lehrwerkskonzeptes.
https://www.klett.de/produkt/isbn/978-3-12-314461-5?searchQuery=314461