Politisches Wissen und Verständnis ist unter Grundschülern verbreiteter als lange gedacht. Experten plädieren dafür, politisches Lernen im Sachunterricht stärker zu fördern sowie bereits ab der 1. Klasse demokratische Prinzipien zu vermitteln und einzuüben.
Wie groß ist das Interesse von Kindern an Politik, was verstehen sie von politischen Prozessen? Lange nahm man an, dass politisches Lernen erst bei Jugendlichen einsetzt. Aktuelle Studien schätzen Kinder dagegen als politisch kompetenter im Vergleich zu früher ein. Simone Abendschön, Professorin am Institut für Politikwissenschaft der Uni Gießen, stellt fest: „Bereits sechsjährige Kinder haben Konzepte von Fairness, Autorität, Konflikt und sozialen Konventionen entwickelt …Auch weitere politisch relevante Orientierungen wie soziale Identität und demokratische Kompetenz werden schon im Alter von fünf bis sechs Jahren ausgebildet.“ Gleichzeitig verweist sie darauf, dass Mädchen sowie Kinder aus sozial benachteiligten Familien und aus Migrantenfamilien im Schnitt weniger Wissen und Interesse mitbringen. „Fehlendes Verständnis für abstrakte Konzepte bei Kindern rührt von fehlendem Input sowie fehlender Praxis und Erfahrung mit politischen Inhalten her“, betont Abendschön und folgert: „Dies weist dem Sachunterricht eine zentrale Vermittlungsrolle frühen politischen Lernens zu.“
„Politisch relevante Orientierungen werden schon im Alter von fünf bis sechs Jahren ausgebildet.“
Auf dem Kongress der Deutschen Vereinigung für Politikwissenschaft in Göttingen Ende September wurden unter der Leitung von Abendschön Studien vorgestellt, die sich mit der politischen Sozialisation von Kindern in Krisenzeiten beschäftigen. Lena Haug, Lehrkraft für besondere Aufgabe am Institut für Pädagogik der Uni Oldenburg, hat für ihre aktuelle Dissertation fast 600 Kinder im Alter zwischen acht und zwölf Jahren aus verschiedenen Schulformen zum Grad ihres politischen Interesses befragt (Ergebnis: sehr interessiert:18 Prozent, ziemlich interessiert: 45 Prozent, weniger interessiert: 32 Prozent, gar nicht interessiert: 5 Prozent).
Politisches Interesse bei 8- bis 12-Jährigen
Bei den Themen der noch vor der Pandemie durchgeführten Befragung standen Kinderrechte an der Spitze, gefolgt von Krieg, Armut, Flucht, Umweltverschmutzung und Ausländerfeindlichkeit – alle wurden von mehr als zwei Drittel der Kinder als sehr oder ziemlich interessant eingestuft. Am Ende der Skala lag Arbeitslosigkeit. Zudem hat Haug die Kinder Bilder zu einem von ihnen frei gewählten politischen Thema malen lassen. Am häufigsten wurde dabei Krieg und Terror sowie Umweltprobleme wie zum Beispiel die Abholzung der Wälder, die Verschmutzung der Meere und der Klimawandel als Motiv gewählt.
Sozioökonomische Faktoren beieeinflussen die Politisierung
Haug hat zudem Angaben der Eltern zu ihrem sozioökonomischen Status (SES) wie Bildungsabschluss und Einkommenshöhe ausgewertet und unterscheidet so die befragten Kinder nach einem hohen und einem niedrigen SES. Sie stellt eine Politisierungskluft zwischen sozioökonomisch privilegierten und benachteiligten Kindern fest – zum Beispiel zeichnen Kinder mit niedrigem SES vermehrt eher unpolitische Ereignisse wie Flugzeugabstürze und andere Katastrophen, während Kinder mit hohem SES explizit politische Themen auswählen und sowohl ein größeres allgemeines wie auch ein spezifisches Interesse an einzelnen politischen Themen zeigen. Haug sieht hier einen Zusammenhang. Ihr Fazit: „Meine Ergebnisse stützen dabei die These, dass sich politisches Interesse auf der Grundlage politischer Themeninteressen entwickelt, über die Kinder Zugang zur Welt der Politik erhalten. Politische Themeninteressen werden dabei anscheinend besonders durch politische Probleme, Krisen und Konflikte stimuliert.“ Dabei geht laut Haug ein höheres Themeninteresse einher mit höherer Verständniskompetenz, vermehrter Nachrichtennutzung, politischer Kommunikation und einem höheren Bewusstsein für die Bedeutung von Politik.
Politisches Interesse kann man fördern
Abendschön hat untersucht, inwieweit das Interesse von Grundschulkindern aus Rheinland-Pfalz an Politik durch den Klassenbesuch des Landtages in Mainz gesteigert werden kann. Zehn 3. und 4. Klassen konnten dort einen Tag verbringen, wozu auch ein Rollenspiel „Landtag“ mit Meinungsaustausch und Diskussion zu einem Thema mit abschließender Abstimmung gehörte. Die Schüler:innen wurden eine Woche vor der Fahrt, während des Besuchs und drei Wochen danach zu verschiedenen politischen Themen befragt und ihre Antworten mit denen von Parallelklassen verglichen, die zeitgleich im Unterricht dieselben Inhalte bearbeiteten, aber nicht den Landtag besuchten. Zudem wurden die Lehrkräfte befragt, die die Klassen nach Mainz begleiteten. Ergebnis: Die Hälfte von ihnen spricht davon, dass die Kinder durch ihre Erlebnisse im Landtag die Bedeutung der Meinungsvielfalt und der eigenen Meinung stärker schätzen. 40 Prozent beobachten motiviertere Schüler:innen im Unterricht, 30 Prozent erleben bei den Kindern mehr Interesse an Politik.
Im Vergleich zur Kontrollgruppe ist nicht nur das politische Interesse und Wissen höher, sondern auch die Diskussionsbereitschaft und das Verständnis für andere Meinungen ist stärker ausgeprägt und nach dem Besuch gestiegen. Gleichzeitig stellt Abendschön fest, dass zum Beispiel der Wunsch nach Mitbestimmung sowie die Bedeutung verschiedener Parteien und der Gleichberechtigung zwischen Frau und Mann umso höher ist, wenn die befragten Schüler:innen – egal ob im Landtag dabei oder nicht – Erfahrung in einem Klassenrat haben, wo sie ihre Interessen vertreten können.
Relevant: Lehrpläne für Grundschulen
Das demokratische Lernen in Grundschulen taucht in Lehrplänen der Bundesländer viel häufiger auf als das politische Lernen. Gefördert wird das Kennenlernen und Einüben von demokratischen Prinzipien von Mädchen und Jungen am Schulalltag unter anderem durch das Programm Unicef-Kinderrechteschulen, an dem derzeit 66 Schulen mit mehr als 15 000 Schüler:innen aus Schleswig-Holstein, Niedersachsen und Nordrhein-Westfalen teilnehmen. Es geht darum, die Meinungen von Kindern ernst zu nehmen und ihnen Raum für Mitwirkung zu geben. Eine dieser Schulen ist die Grundschule Hinrich Wolff aus Bergen in Niedersachsen, deren Leitbild unter dem Motto „Keiner kann alles – jeder kann etwas – alle werden gebraucht!“ steht. Dort wählen die Klassen zwei bis vier Klassensprecher, einmal die Woche wird Klassenrat gehalten, einmal im Monat beschäftigen sich die Schüler:innen mit einem Kinderrecht, sie bestimmen über die Gestaltung des Schulhofes mit und setzen ihre Ideen am tu-was-Tag um. Schulleiterin Katja Tank: „Kinder haben Rechte und die sollen sie an unserer Schule kennen- und schätzen lernen.“
Text: Joachim Göres
Kompakt: Viele Kinder sind an Politik interessiert, verfügen über politisches Wissen und ein Verständnis für demokratische Grundsätze – sie leben nicht in einem politikfreien Raum. Oft sind dabei aktuelle Konflikte in der Welt der Ausgangspunkt für wachsende Aufmerksamkeit. Gefördert wird das Interesse zudem durch das Gespräch über politische Themen und die Nutzung von Nachrichtensendungen. Überdurchschnittlich häufig fehlt allerdings Mädchen sowie Kindern aus armen Verhältnissen und Migrantenfamilien ein politisches Verständnis. Um diese Kluft zu überwinden, empfehlen Fachleute die stärkere Behandlung von politischen Themen im Sachunterricht sowie das Einüben von demokratischen Prinzipien in der Grundschule.
Medien-Tipp: Miteinander sind wir stark!
Ob Klassenrat, Fake-News oder Vielfalt, zum Thema Demokratiebildung in der Grundschule bietet der Grundschul-Blog des Ernst Klett Verlags viele Anregungen und didaktische Materialien für eine starke Gemeinschaft in der Grundschule.