Klett-Themendienst Nr. 122 (05/2024)

Bei Fahrradprüfungen in der Grundschule fallen immer mehr Mädchen und Jungen durch. Einige Schulen haben reagiert und versuchen mit unterschiedlichen Modellen, das Radfahren populärer zu machen.

Montagmorgen an der Grundschule Vorstadt im schleswig-holsteinischen Ratzeburg. Fast 90 Kinder aus den vierten Klassen haben heute ihre Fahrradprüfung. Klassenweise stehen sie mit ihrem Rad in einer langen Reihe und schieben sich langsam nach vorne. Dort steht Kathrin Bertelsen in Polizeiuniform, nimmt noch einmal jedes Fahrrad kritisch unter die Lupe und verabschiedet jedes Kind einzeln vor der Prüfungsfahrt rund um die Schule. Viele sind aufgeregt „Thore, Du hast das beim letzten Mal gut gemacht. Denk an die Regeln fürs Linksabbiegen. Die Aufregung geht weg, wenn Du erstmal losfährst“, macht die Polizeihauptkommissarin Mut.

Copyright: Joachim Göres

Sie spricht jedes Kind mit Namen an, erkundigt sich nicht selten nach Geschwistern oder Eltern und versucht so zur Entspannung beizutragen. „Achte auf die Vorfahrt. In einer Viertelstunde bist Du wieder hier. Viel Glück“, wünscht sie Merle eine gute Fahrt.

Kinder fahren weniger Fahrrad

Die Prüfungsstrecke liegt in einem Wohngebiet, die meisten Straßen haben keinen Fahrradweg. Auf dem Rundkurs, den die Kinder in ihren Übungsstunden mit Bertelsen bereits zur Probe abgefahren sind, müssen die Mädchen und Jungen an Kreuzungen mehrfach links abbiegen. An einzelnen Stationen warten Eltern und notieren, ob sie alles richtig machen. Die Kinder sind durch ihre gelben Warnwesten mit Startnummern und hellen Schutzhelme für den übrigen Verkehr gut sichtbar. Nicht alle reagieren darauf entsprechend. „Einige Autofahrer schneiden beim Abbiegen die Kinder“, empört sich eine Mutter. Fast alle Kinder fahren wie abgesprochen hintereinander, es gibt keine Stürze oder Unfälle, alle kommen wieder wohlbehalten und gut gestimmt in der Schule an. „Ich war ein bisschen aufgeregt, aber ich hatte keine Probleme. Ich hatte ja vorher auch schon viel geübt“, erzählt Celina.

Problem Elterntaxi

Bei der Auswertung zeigt sich allerdings, dass der erste Eindruck täuscht. Oft haben sich Kinder nicht per Schulterblick vor dem Abbiegen noch einmal umgeschaut. Manche haben vergessen, das Abbiegen mit der Hand anzuzeigen. Entscheidender ist aber, dass viele unterwegs die Vorfahrt nicht beachtet haben. Das ist ein Grund, um durchzufallen – 22 Kinder bestehen deswegen die Prüfung nicht. „Die Durchfallquote liegt sonst bei 10 bis 15 Prozent. Ich bin ein bisschen erschrocken über die hohe Zahl heute“, gesteht Bertelsen. Sie sucht nach Gründen für die Tendenz, dass immer mehr Kinder Probleme mit dem Radfahren haben: „Die Kinder sind weniger als früher mit dem Rad unterwegs, es wird mehr zu Hause gespielt. Kinder werden immer häufiger mit dem Auto transportiert, das Radeln wird mit den Eltern insgesamt weniger geübt. Das wirkt sich aus – manche trauen sich nicht Handzeichen zu geben, weil sie den Lenker immer mit beiden Händen festhalten.“

Der Verkehrsclub Deutschland (VCD) untermauert diese Entwicklung mit Zahlen. Danach wird heute etwa die Hälfte der Kinder mit dem Auto zur Grundschule gebracht – 1976 gingen oder fuhren noch 92 Prozent aller Erstklässler alleine zur Schule. Vor allem in ländlichen Regionen und in Kleinstädten nutzen Kinder und Jugendliche weniger das Rad als früher (2002: 23 Prozent, 2017: 15 Prozent). An manchen Schulen fallen 40 Prozent der Kinder bei der Fahrradprüfung durch.

Theorieprüfung: Manche Kinder verstehen die Fragen nicht

Einige Wochen vor der praktischen Prüfung gab es bereits eine Theorieprüfung. Da wurde nach der Bedeutung von Verkehrszeichen zur Vorfahrtsregelung gefragt, das richtige Linksabbiegen an Kreuzungen thematisiert sowie über den toten Winkel bei Lastwagen informiert und dazu Fragen gestellt. Auch hiermit hatten nicht wenige Mädchen und Jungen Probleme. „Die Kinder sind interessiert, doch sie lesen weniger als früher und erfassen den Inhalt von Texten schlechter. Manche verstehen die Fragen nicht“, sagt Klassenlehrerin Nina Sowoidnich.

In den meisten Lehrplänen ist die Verkehrserziehung an  Grundschulen Teil des Sachunterrichts. Materialien wie „Niko Sachunterricht“ widmen sich mit eigenen Kapiteln der Verkehrserziehung, die auf die Fahrradprüfung vorbereiten.

Ihre Kollegin Christina Lübker ergänzt: „Verkehr ist von der ersten bis zur vierten Klasse Thema im Sachunterricht, das finden die meisten Kinder spannend. Sie freuen sich auch auf die Fahrradprüfung. Doch immer häufiger sind sie nicht in der Lage, sich in Ruhe und konzentriert eine Aufgabe durchzulesen. Wir haben kaum Kinder mit Migrationshintergrund und dennoch diese Probleme.“

Motivation: Stadtradeln und Leihräder

Wegen dieser Entwicklung engagieren sich einige Schulen zunehmend fürs Fahrradfahren. In der Albert-Schweitzer-Schule Muggensturm bei Karlsruhe können Schulroller und Räder ausgeliehen werden, um damit auf dem Schulhof zu fahren. An einem Radhelden-Aktionstag können die rund 200 Grundschüler an verschiedenen Stationen Koordination, Geschicklichkeit und Konzentration üben. Zusammen mit Eltern und Lehrkräften nahmen die Kinder am Stadtradeln teil, bei dem die Schulgemeinschaft zusammen über 52 000 Kilometer erradelte.

Auch weiterführende Schulen verstärken ihre Anstrengungen zur Förderung des umweltfreundlichen Fahrrades. Die Nelson-Mandela-Schule im westfälischen Rheine hat mit Unterstützung von Firmen und Schulträger Helme und Fahrräder angeschafft, damit auch Kinder und Jugendliche ohne eigenes Rad an Fahrradaktionen und Ausflügen teilnehmen können. Zudem bildet die Sekundarschule Jugendliche in der 8. Klasse zu Bike Scouts aus. Sie leiten dann ab der 9. Klasse eigenverantwortlich 4. Klässler in Grundschulen an, die sich auf die Prüfung zum Fahrradführerschein vorbereiten (weitere fahrradfreundliche Schulen unter www.vcd.org/schulmobilitaet).

Apropos Fahrradführerschein: Einige Tage nach der Prüfung in Ratzeburg hat Bertelsen kurzfristig eine Nachprüfung für alle gescheiterten Kinder angeboten, bei der dieselbe Strecke gefahren werden musste. Vorher hatte sie noch einmal den Eltern ans Herz gelegt, den Weg mit ihren Kindern zu üben. Wie oft das tatsächlich geschehen ist, bleibt offen. Alle Teilnehmerinnen und Teilnehmer haben jedenfalls die Nachprüfung bestanden.

Text: Joachim Göres