Klett-Themendienst Nr. 113 (4/2023)

Experten fordern, Schulvermeidung nicht hinzunehmen, sondern sofort zu reagieren. Dazu gehört auch auf Kinder und Jugendliche zuzugehen, die noch anwesend sind, aber sich innerlich vom Unterricht verabschiedet haben.

„Es gibt Jugendliche, die sind zwei Jahre nicht zur Schule gegangen, ohne jede Konsequenz. So etwas darf man nicht einfach hinnehmen, denn bei ihnen besteht ein großes Risiko für Drogenmissbrauch, Arbeitslosigkeit und Straffälligkeit.“ Der Kinder- und Jugendlichen-Psychotherapeut Andreas Rudolf weiß, wovon er spricht, denn er leitet im Ameos Klinikum Hildesheim eine Station für Schulvermeider. „Die meisten Kinder und Jugendlichen gehen aus Angst nicht zur Schule“, so Rudolf kürzlich auf einer Tagung der Evangelischen Akademie Loccum zum Thema „Psychische Kinder- und Jugendgesundheit ernst nehmen und verbessern“.

Rudolf hat es in seiner Arbeit vor allem mit Schülerinnen und Schülern mit Sozialphobien zu tun: Sie haben Angst, im Mittelpunkt zu stehen und zum Beispiel ein Referat zu halten, fürchten die Bewertung ihrer Leistungen und werden wegen Bauch- oder Kopfschmerzen oft entschuldigt. Diese Symptome treten oft auch bei einer Angstphobie auf, bei der sich Kinder und Jugendliche nicht von ihren Eltern trennen können und mit Weinen und Schreien reagieren, wenn es in die Schule gehen soll – sie sind froh, wenn sie zu Hause bleiben dürfen. Im Klinikum werden unter anderem Alltagssituationen geprobt. Zudem werden auch Depressionen behandelt, unter denen die Betroffenen oft leiden. Zu dem zwölfwöchigen stationärem Programm gehört, dass die Jugendlichen nach acht Wochen wieder beginnen, zur Schule zu gehen, wobei die Zeiten langsam gesteigert werden. „Zwei Monate nach der Entlassung bei uns besuchen 80 Prozent wieder regelmäßig den Unterricht“, sagt Rudolf.

Für ihn ist entscheidend, dass Schulen frühzeitig auf Fehlzeiten reagieren. Dazu gehört die genaue Dokumentation der unentschuldigten Tage. Nach fünf Fehltagen sollte das Gespräch mit den Eltern gesucht und auch vor der Einleitung von Ordnungswidrigkeitsverfahren nicht zurückgeschreckt werden. Bei längeren Fehlzeiten sollte ein ärztliches Attest verlangt werden. Zudem müssten Lehrkräfte schon aktiv werden, wenn Schüler noch im Unterricht sind, aber sich überhaupt nicht mehr beteiligen. Rudolf: „Es gibt Risikofaktoren wie große Klassen und lange Ferienzeiten, an denen Schulen nichts ändern können. Umso wichtiger sind andere Faktoren, auf die man Einfluss hat, vor allem das Klassenklima. Man darf niemanden bloßstellen, sondern muss mit Wertschätzung arbeiten und sollte den Kontakt zu denjenigen suchen, die vor sich hinträumen, schlafen oder oft später kommen bzw. früher gehen. Man sollte Erfolgserlebnisse schaffen für diejenigen, die an den Anforderungen immer wieder scheitern. Das Wichtigste ist Beziehungsarbeit.“

In der Rudolf-Bembenneck-Gesamtschule Burgdorf bei Hannover ist seit einem Jahr der Sozialarbeiter Gunnar Otto nur für Schulverweigerer zuständig. Dabei werden auch die Eltern zu Hause besucht. „Wir reagieren sofort. Manchmal reichen kurze Gespräche und minimale Veränderungen, um die Abwesenheit zu beenden“, sagt Otto.  „Viele Eltern sind sehr dankbar für ein Gespräch, denn sie wissen oft nicht mehr weiter“, ergänzt IGS-Direktorin Saskia van Waveren-Matschke. Sie sieht auch positive Effekte auf Seiten der Lehrkräfte: „Viele waren überrascht zu sehen, dass zahlreiche Schüler kein eigenes Zimmer haben und können nun besser einschätzen, warum Online-Lernen oft nicht funktioniert.“ Durch den besseren Kontakt zu den Eltern habe sich die zuvor steigende Zahl der Schulverweigerer stabilisiert. Für die Zukunft plant man jahrgangsübergreifend eine Wiedereingliederungsklasse für diejenigen, die längere Zeit zum Beispiel wegen eines Klinikaufenthalts nicht am Unterricht teilgenommen haben. „Wir haben 30 und mehr Schüler in den Klassen. Für Wiedereinsteiger brauchen wir kleinere Gruppen“, betont van Waveren-Matschke.

Auch Berufsschulen haben es oft mit Schulvermeidern zu tun. An der Anna-Siemsen-Schule in Hannover bietet man ihnen eine Alternative an: Statt den Unterricht zu besuchen können sie ein zwölfmonatiges Praktikum machen, zum Beispiel im Friseurhandwerk, in einer Kindertagesstätte oder im Handel. Rund ein Dutzend von insgesamt 1500 Schülerinnen und Schülern nutzt diese Möglichkeit. „Die meisten von ihnen schaffen das Langzeitpraktikum bis zum Ende“, sagt BBS-Schulsozialarbeiterin Isabell Wittig-Dase.

In Bielefeld gibt es seit zwölf Jahren die Schulstation. Sie bietet allen Bielefelder Schulen ihre Dienste an, wenn Schülerinnen und Schüler der Sekundarstufe I nicht zum Unterricht erscheinen. „Dieses Problem hat durch Corona stark zugenommen. Gerade zu Zeiten des Online-Unterrichts wurde oft nicht registriert, dass bestimmte Jugendliche sich über Monate ganz ausklinken“, sagt Julia Heidemann. Die Lehrerin für Sonderpädagogik berät Schulen bei konkreten Fällen von Schulvermeidung. „Je frühzeitiger man tätig wird, umso eher schafft man es, dass sie wieder in den Unterricht kommen“, berichtet Heidemann. Sie betont, dass sie es mit Jugendlichen zu tun hat, die psychisch belastet sind und traumatische Erlebnisse mit Unterrichtssituationen verbinden.

Die Schulstation bietet auch eine eigene Lerngruppe für diejenigen an, die in absehbarer Zeit mit der Diagnose Sozial- oder Angstphobie von einer Klinik aufgenommen werden oder vor einem Schulwechsel stehen. An vier Tagen die Woche kommen die im Schnitt 14-Jährigen für jeweils zwei Stunden ins Schulhaus. „Es geht darum, dass es ihnen hier gut geht. Es geht um das Gespräch und auch um schulische Inhalte, die hier entsprechend des Stoffs in ihrer Klasse bearbeitet werden“, sagt Heidemann und fügt hinzu: „Und es geht um eine feste Struktur. Wir fangen immer um 11.15 Uhr an. Wenn jemand nicht kommt, kümmern wir uns sofort darum. Bei Krankheit verlangen wir in Einzelfällen auch ein ärztliches Attest.“ Mit gemischten Gefühlen blickt sie in die Zukunft: „Wir bekommen inzwischen wegen des Themas Schulvermeidung auch zunehmend Anfragen von Grundschulen.“

Text von Joachim Göres

Kompakt
Hast Du schon mal die Schule geschwänzt? Diese Frage wurde 1800 Schülerinnen und Schülern zwischen 12 und 18 Jahren in Köln gestellt. 14,7 Prozent der Hauptschüler sagten Ja, gefolgt von Förderschülern (12,8), Realschülern (6,1) und Gymnasiasten (4,7). Das Schwänzen wird meist mit Jugendlichen in Verbindung gebracht, die keine Lust auf Schule haben. Tatsächlich spielen aber Angst- und Sozialphobien beim Thema Schulvermeidung eine wesentlich größere Rolle. „Die meisten Kinder und Jugendlichen schaffen es aus Angst nicht, zur Schule zu gehen“, sagt Andreas Rudolf, der im Ameos Klinikum Hildesheim eine Station für Schulverweigerer leitet.

Buchtipp:
Das Forschungsprojekt „Jeder Schultag zählt“ aus Hamburg hat zwischen 2019 und 2022 untersucht, wie Schulabsentismus verringert werden kann. Das Praxishandbuch der Joachim-Herz-Stiftung steht hier zum kostenlosen Download bereit: https://www.joachim-herz-stiftung.de/forschen/bildungsforschung/forschungsprojekt-jeder-schultag-zaehlt