Nach der Fibelmethode in den 70er Jahren und der kontrovers diskutierten Methode „Lesen durch Schreiben“ bzw. „Schreiben nach Gehör“ erobern seit einiger Zeit Grundwortschatzlisten die Grundschulen. Mit diesen Listen sollen Kindern bis zum Ende der 4. Klasse gute Rechtschreibkenntnisse aufbauen. Aber wie genau funktioniert das? Sollen Kinder die Listen auswendig lernen?
„Nein, auswendig lernen sollen Kinder die Wörter nicht“, so Lerntrainerin Sabine Omarow. „Auswendig lernen hilft nicht, wenn es z. B. darum geht, zu erkennen, wann ein Wort mit ‚tz‘ endet und wann mit ‚z‘“. Genau darum geht es bei dem Prinzip der Wortschatzlisten. Die Kinder lernen anhand aufmerksam erforschter Wörter grundlegende Strukturen der Rechtschreibung kennen, damit sie diese Strategien auf andere Wörter übertragen können. „Solche Strategien sollen die Kinder lernen und beherrschen, dann schrumpft die Anzahl der wenigen Wörter, die man wirklich auswendig lernen muss.“
Grundlage für Lehrplan Deutsch
Die Lerntrainerin aus Paderborn arbeitet vor allem mit Kindern, die von einer Lese-Rechtschreib-Schwäche betroffen sind. Sobald sie gelernt haben, Strategien anzuwenden, verringert sich deren Fehlerhäufigkeit, erklärt die Fachfrau. Die NRW-Grundwortschatzlisten findet Omarow gut, weil dort die Wörter nach Rechtschreibphänomenen sortiert und nicht von A bis Z aufgelistet sind. Seit dem Schuljahr 2020/2021 kann mit dem Rechtschreibgrundwortschatz gearbeitet werden, der zukünftig in den Lehrplan Deutsch eingearbeitet wird. Insgesamt 533 Wörter sollen dann an den Grundschulen in NRW als unterrichtliche Grundlage dienen, um Schülerinnen und Schülern anzuregen, sich mit Regeln und Ausnahmen zu beschäftigen.
„8 Wörter pro Woche“
Jedoch fällt es vielen Lehrerinnen und Lehrern nicht so leicht, sich mit dem Einsatz von Grundwortschatzlisten vertraut zu machen. Allzu oft werden die Listen nur zur Diktat-Vorbereitung genutzt oder den Eltern zum Üben mit ihren Kindern nach Hause gegeben. Dabei gehen die Einsatzmöglichkeiten weit darüber hinaus, wie Carmen Daub weiß.
Die Grundschullehrerin aus dem Saarland ist u.a. Autorin der Niko-Wörterkartei, deren Version für NRW auf der NRW-Grundwortschatzliste beruht. Unter Berücksichtigung der Buchstabenprogression (das ist die Reihenfolge der gelernten und beherrschten Buchstaben) geht es in der Kartei anfangs um Buchstaben und Wörter, die die Kinder mit den wenigen zur Verfügung stehenden Buchstaben schon lesen und schreiben können, bis sich die Sortierung nach und nach ausdifferenziert. Lehrkräfte, die sich nicht nur online (www.schulentwicklung.nrw.de) mit dem Einsatz der Grundwortschatzliste befassen möchten, finden mit der Kartei Struktur und Anregungen.
Abb. Die Wortschatzarbeit unterscheidet zwischen Merkwörtern und Nachdenkwörtern, denen jeweils unterschiedliche Strategien zugrunde liegen und z. B. mit Karteikarten trainiert werden können.
Die Faustregel lautet: „8 Worte pro Woche von der 1. bis zum Ende der 4. Klasse – dann haben die Kinder alle 533 Wörter der Liste kennengelernt“, so Carmen Daub. Ihre Vorschläge zur Arbeit mit der Kartei hat die Autorin ins Netz gestellt. Da geht es z. B. um das Wort des Tages oder den Satz der Woche, um im Kartei-Diktat (jede Woche) richtig geschriebene Wörter, die man anschließend zerreißen darf, oder darum, täglich die Wörter zu zählen, die man heute geübt hat.
Tipps für Lehrkräfte
„Damit Kinder ein Rechtschreibgespür entwickeln können, brauchen sie das stetige Üben mit exemplarischen Worten, an denen sie die Gesetzmäßigkeiten unserer Sprache erkennen und nach und nach selbstständig anwenden können“, erläutert die Grundschullehrerin die Systematik ihrer Datei, die idealerweise in Kombination mit Niko Fibel und Niko Sprachbuch eingesetzt wird. – Übrigens: Niko heißt die Dinosaurier-Handpuppe, die kräftig mitlernt und die Kinder z. B. nach dem besonders gut gemerkten Wort des Tages fragt.
Daub, die auch als Fortbildnerin arbeitet, erlebt bei ihren Kolleginnen und Kollegen eine große Aufgeschlossenheit für die Arbeit mit den Grundwortschatzlisten. Dankbar sind sie für konkrete Tipps, wie sie die Grundschullehrerin, humorvoll illustriert, in ihren Online-Seminaren, auf Instagram unter @frau.daub oder auch auf www.grundschul-blog.de gibt.
Ein Beispiel:
• „Ich starte gerne mit kurzen, leichten Wörtern. Wörter wie aber, als, am, an, er, sie, es… übe ich bereits ab dem 2. Halbjahr in Klasse 1.
• 8-10 Wörter pro Woche werden immer montags gelesen, geschwungen, besprochen. (…) Dann üben die Kinder täglich etwa 10 Minuten, am besten gleich um 8.00 Uhr oder im offenen Anfang.
• Das Wort wird gelesen und abgeschrieben oder gelesen, umgedreht und abgeschrieben, je nach Leistungsstand. Für jedes richtige Abschreiben darf das Kind ein Häkchen auf die Karteikarte schreiben. Jeden Freitag diktiere ich die Wörter in ein kleines Diktatheft. Richtig geschriebene Wörter werden aus der Kartei entfernt, falsch geschriebene bekommen ein rotes X und müssen noch eine Woche geübt werden.“
Kinder ernst nehmen
Aber warum brauchen Schulen eigentlich Grundwortschatzlisten? „Wir beobachten seit mehreren Jahren, dass die Sprachgewandtheit der Kinder sich verändert und auch abnimmt“, so Simone Fleischmann, Präsidentin des Bayerischen Lehrer- und Lehrerinnenverbands (BLLV). „Das fängt oft schon bei den Kleinen an, die in die Schule kommen. Früher konnten die Lehrkräfte auf viel mehr Reime, Singspiele, Rhythmik und Lieder aufbauen. Heute herrscht da teilweise viel Nachholbedarf“.
Können die Kinder heute auch etwas besser, als frühere Generationen? Sabine Omarow erkennt durchaus neue Kompetenzen: „Ich stelle fest, dass die Diskussionsfähigkeit mancher Kinder zunimmt und ebenso ihr Interesse daran, komplexe Zusammenhänge zu verstehen, um die Welt gesund zu halten. Wir sollten Kinder ernst nehmen, ganz gleich, wie fehlerhaft oder fehlerfrei sie schreiben.“ Die Vermittlung einer positiven Fehlerkultur ist dabei ein Weg.
Autorin: Inge Michels
Kompakt
Grundlage für einen systematischen Rechtschreibunterricht ist ein Rechtschreibwortschatz, dessen enthaltene Wörter alle grundschulrelevanten Rechtschreibphänomene abbilden. Der Wortschatz ist aus zwei Teilen aufgebaut, damit er sowohl für das Rechtschreiblernen als auch für den individuellen Schriftgebrauch der Kinder von Bedeutung ist: 1. ein vorgegebener gemeinsamer Grundwortschatz aus 533 Wörtern und 2. ein individueller Wortschatz aus ca. 200-300 Wörtern. Der vorgegebene Grundwortschatz NRW soll mit der Übernahme in die neuen Lehrpläne Deutsch zum Schuljahr 21/22 verbindlich werden. In den meisten anderen Bundesländern werden ebenfalls Wortschatzlisten geführt.
Buchtipp:
Die Arbeit mit Wortschatzlisten ist standardmäßig in die Unterrichtsmaterialien des Ernst Klett Verlag integriert. Zusätzlich wird viel Begleitmaterial für die Unterstützung von Lehrkräften sowie Schülerinnen und Schülern angeboten. Ab dem 15. Januar 2021 steht die Niko App Grundwortschatz üben für die Klassen 1 und 2 zur Verfügung. Die schülergerechte App trainiert den Grundwortschatz anhand der bekannten Strategien auf spielerische Weise. Sie wird in allen App-Stores angeboten.