Am Fremdsprachenlernen führt in der Schule kein Weg vorbei. Doch trotz ihrer beruflichen Bedeutung verbinden viele Schülerinnen und Schüler das Lernen einer Sprache mit Druck und Versagensängsten. Der Englischdidaktiker und Bildungsneurologe Prof. Heiner Böttger nutzt Erkenntnisse der Neurowissenschaften, um Fremdsprachenkompetenz auf natürliche Weise zu vermitteln. 

 

Wie würden Sie einem Fünftklässler den Begriff Neurodidaktik erklären?

Neurodidaktik vermittelt zwischen dem Erlernen der englischen Sprache und dem, was das Gehirn kann. Das Wort „Neuro“ steht praktisch für Gehirn, das Wort „Didaktik“ für Transfer und Vermittlung. Das wäre ganz kurz erklärt, was Neurodidaktik ist.

Woran fehlt es dem gängigen Fremdsprachenlernen aus Sicht der Neurodidaktik?

Es fehlt das Verständnis für den Zusammenhang zwischen Fremdsprachenlernen und den tatsächlich ablaufenden neurologischen Prozessen. Das Erlernen einer Fremdsprache ist nicht vergleichbar mit dem Zugriff auf den bekannten Vokabelkasten, auf den man wie auf eine Festplatte zugreift. Und wenn man dann zum Beispiel einen slip of the tongue, einen Versprecher, hat, dann hat man nicht richtig auf die Vokabelschachtel im Gehirn zugegriffen. Die gängige Vorstellung, dass unbewusstes Wissen bewusst gemacht werden kann, entspricht nicht den neurobiologischen Realitäten. Linearität und geplante Progression sind Mythen des Sprachenlernens.

In schulischen Kontexten wird daher vor allem und meist ausgiebig das explizite Gedächtnis genutzt, aus dem das Gespeicherte später möglichst bewusst abgerufen werden soll, z.B. wie gesagt bei Tests. Der Weg in dieses Gedächtnis erfolgt explizit, durch Bewusstmachen, Erklären, Üben, Wiederholen und konzentrierte Aufmerksamkeit. Das bedeutet viel Anstrengung, Stress und Druck, sowohl für die Lernenden als auch für die Lehrenden. In unseren Schulen gibt es im übertragenen Sinne viel zu viel „blood, sweat and tears“ beim Lernen, viel Zeit wird mit Vokabellernen und Grammatikpauken verbracht. Das sind explizite Lernprozesse, aber implizite Lernprozesse würden viel tiefer gehen und wären auch nachhaltiger.

Wie erklären Sie es sich, dass das Thema Angst beim Fremdsprachenlernen in Deutschland keine große Rolle spielt?

Die Rolle der Gefühle beim Sprachenlernen wurde bislang unterschätzt, man erinnert sich beim Sprechen zum Beispiel oft an negative Vorfälle, die Jahrzehnte zurückliegen, und schämt sich für sie. Nicht selten stammen diese Erinnerungen aus der Schulzeit, und blockieren später die Kommunikation. Emotionen verbunden mit Sprache sind mächtig, die Wirkungen halten ein Leben lang an. Das nicht-restriktive, positiv konnotierte explorative Lernen von Fremdsprachen, etwa über Geschichten, theatralische Inszenierungen oder Musikstücke, würden die Gefühle der Schülerinnen und Schüler auf konstruktive Weise einbeziehen.

Wenn man nach neun Jahren Englischunterricht ins Berufsleben eintritt, erwartet die Gesellschaft, dass man die Fremdsprache dann auch beherrscht. Es gibt einen gesellschaftlichen Sprachdruck, der beginnt, wenn man die Schule verlässt. Sobald man sich um einen Job bewirbt, bei dem man über den lokalen Tellerrand hinausschauen muss, wird fließendes Englisch erwartet. Und viele Schulabsolventen geben dann an, dass sie Englisch auf dem Niveau B 2 (Europäischer Referenzrahmen) beherrschen. Tatsächlich sprechen sie in der Regel Englisch auf dem Niveau von B 1.

Wie funktioniert der Fremdsprachenerwerb aus neurowissenschaftlicher Sicht?

Sprache wird nicht nur im Sprachzentrum des Gehirns gespeichert, sondern im ganzen Gehirn verteilt. Das Gehirn ist ein Konnektom, ein in sich verbundener Schaltplan des Gehirns auf der Ebene der Neuronen, die beim Fremdsprachenlernen hochkomplex in den verschiedenen Orten des Gehirns miteinander vernetzt sind. Wir brauchen deshalb explorative, angstfreie und fehlertolerante Lernumgebungen, die Raum geben für Lernfreude, Motivation, vielen Übungen und Wiederholungen. Dann werden alle Gehirnareale einbezogen.

Neugier und Kreativität entfalten sich nur ohne Leistungsstress und Versagensängste, sind der Zugang zum elementarsten Gedächtnis, dem impliziten Langzeitgedächtnis. Was dort gespeichert ist, kann weder kontrolliert noch bewusst abgerufen oder als Regelwissen getestet werden. Automatisch und meist völlig unbewusst abrufbare Abläufe wie Fahrradfahren, Geige spielen oder Schuhe zubinden sind dort zuhause ‒ aber auch mündliche Sprachkompetenzen ‒ oder das gern zitierte unspezifische „Bauchgefühl“. Implizite Lernprozesse, die keiner bewussten Aufmerksamkeit zugänglich sind, werden vor allem außerhalb des doch laborhaften Klassenzimmers angeregt, wo die Lernumgebung vielfältige Sinnesreize bietet. Dort erfordern die vielen Eindrücke eine stark erhöhte Konzentration zur Lösung einer Aufgabe, da alle anderen Störungen ausgeblendet werden müssen. Dies geschieht unbewusst und erfordert eine hohe Konzentration. Die Lerninhalte werden vertieft und längerfristig gespeichert.

Was würde sich an der Aufgabenstellung für den Englischunterricht ändern, wenn die Forschungsergebnisse der Neurodidaktik berücksichtigt würden?

Wir müssen also Aufgabenformate finden, die sowohl implizite als auch explizite Lernprozesse beinhalten und miteinander verbinden: mehr draußen lernen, spielerisch lernen, Musik und Rhythmus einbeziehen, in Projekten lernen, dialogisch lernen, interaktiv lernen. Eigentlich nichts Neues, aber es muss umgesetzt werden. Neue Aufgabenformate sind der Schlüssel. Erst explorative, performative, kommunikative und multisensorische Aufgabenformate für die Sprachverarbeitung ermöglichen einen ganzheitlichen Lernprozess.

Neurodidaktisch gesehen ist es zum Beispiel besser, wenn die Lernenden wie im echten Leben miteinander interagieren, im Klassenzimmer also aufstehen, durcheinandergehen, einen neuen Partner finden. Bei solchen Unterrichtssettings geht es nicht leise zu, alle reden miteinander und durcheinander, es entsteht so etwas wie ein babylonisches Sprachengewirr. Aber wenn alle Schülerinnen und Schüler bei solchen Übungen durcheinander sprechen, erhöht sich die Anforderung für das Gehirn. Durch eine Lernsituation, die an eine Cocktailparty erinnert, erzielt man eine viel höhere Verarbeitungstiefe des Lernstoffs.

Das menschliche Ohr kann aus den Geräuschen der Umgebung herausfiltern, was die Person, die ich anschaue, gerade zu mir sagt. Das Gehirn hat währenddessen eine so hohe Konzentrationsleistung aufzubringen, dass die Fremdsprache wesentlich besser verarbeitet wird. Und so ist es im richtigen Leben: Aus den vielen Umweltreizen wird das herausgefiltert, was zur Lösung der Aufgabe beiträgt. Dadurch ist die Verarbeitung tiefer. Das ist eine Essenz, die ich Lehrerinnen und Lehrern in Fortbildungen mitgeben kann: Lasst die Schülerinnen und Schüler ein wenig Lärm in im Klassenzimmer oder draußen machen. Englisch laut sprechen oder singen und dabei herumlaufen. Walk‘nTalk verbindet. Und das ist nur einer von ganz vielen Tipps – siehe meine Snippets!

Wie verbreitet sind neurodidaktische Ansätze in der Lehrerfortbildung?

Es gibt eine große Nachfrage nach sprachenrelevanten neurodidaktischen Fortbildungen und Vorträgen. Die Vertreterinnen und Vertreter der Fächer schauen immer mehr darauf, wie etwas neurophysiologisch funktioniert, um ihre Didaktik zu verbessern. Methodische Verfahren können jetzt wissenschaftlich begründet werden, ein wahrer Meilenstein. Das Zusammenführen der noch immer losen Enden ‒ der Fachdidaktik und der Hirnforschung ‒ ist die Zukunft, weil es aus der Monokultur der Methoden herausführt.

Neurowissenschaften, Medizin und Psychologie liefern neben der Fachdidaktik wichtige Erkenntnisse über Lernprozesse für den Unterricht. Fachdidaktiken können mit den Kenntnissen der Gehirnforschung schülerzentrierter und individualisierter arbeiten. Organisatorische Veränderungen wie ein späterer Beginn des Unterrichts und aufgelockerte Stundenpläne zum Beispiel mit Freiarbeitsphasen in den ersten beiden Unterrichtsstunden berücksichtigen die biologischen Chronotypen in der Pubertät. 2016 hat es eine Initiative der New York University in Educational Neuroscience gegeben. Weltweit kommen seitdem immer mehr Studiengänge zu dieser Fachrichtung dazu. Daran merkt man, Neurodidaktik ist ein hochaktuelles Thema, das das Zeug zum Paradigmenwechsel in der Didaktik des Fremdsprachenunterrichts hat.

Prof. Dr. Heiner Bötter

ist nach über 13-jähriger Tätigkeit als Haupt- und Realschullehrer seit 2007 Professor für Didaktik der englischen Sprache und Literatur an der Katholischen Universität Eichstätt-Ingolstadt. Seine aktuellen Forschungsschwerpunkte sind: evidenzbasierter Fremdsprachenunterricht, sprachlernpsychologische Aspekte (u.a. Angst, Gedächtnis, Resilienz, Achtsamkeit), Foreign Language Anxiety, Language Educational Neurosciences. Für den Klett-Verlag entwickelte er „Snippets“, interdisziplinäre Materialien zwischen Fremdsprachenunterricht und Neurowissenschaften.

Klett Akademie für Fremdsprachendidaktik

Schon früh haben die Redaktionen des Ernst Klett Verlags den Wert der Neurodidaktik für die Konzeption von Fremdsprachenmaterialien erkannt und erste Ansätze in den Fächern Spanisch und Englisch integriert. Die Klett Akademie für Fremdsprachendidaktik, die Impulse aus der Forschung in den Unterricht transferiert, hat Prof. Dr. Böttger deshalb gebeten, Lerneinheiten für Lehrkräfte zu fremdsprachendidaktischen und neurowissenschaftlichen Aspekten des Sprachenlernens zu entwickeln.

Die 40 kostenlosen Lerneinheiten stehen auf den Seiten der Klett Akademie zur Verfügung: https://www.klett.de/inhalt/klett-akademie/neurowissenschaften-und-fremdsprachenunterricht/287371