Klett-Themendienst Nr. 76 (06/2017)

Lange war es still um die russischen Kriegsgefangenen der Nazis im Landkreis Cloppenburg. Doch dann erforschte Geschichtslehrer Stefan Kühling mit Achtklässlern die Schicksale der Kriegsgefangenen. Über Entdeckungen und Erfahrungen spricht er im Interview.

Mit Ihrem Projekt „Russische Kriegsgefangene im Saterländer Ortsteil Ramsloh“ haben Sie den Schülerpreis des Heimatbundes des Oldenbürger Münsterlandes gewonnen. Auf welches Ergebnis sind Sie besonders stolz?

Wir haben herausgefunden, dass auf dem Friedhof nicht drei, sondern acht russische Kriegsgefangene liegen. Auf einer der Karteikarten von russischen Kriegsgefangenen haben wir eine Adresse gefunden. Daraufhin haben wir mit der Gemeinde von Volokolamsk, einem Vorort von Moskau, Kontakt aufgenommen. Von dort wurden wir an einen der Enkelkinder des russischen Kriegsgefangenen weitergeleitet. Die Enkelkinder wussten 72 Jahre lang nicht, wo ihr Großvater geblieben ist. Mit einem rührenden Brief hat sich die Familie bei uns bedankt und uns ein Bild des Großvaters geschickt, das aus dem Jahr 1921 stammt. Nun können sie hierher reisen und von ihrem Großvater Abschied nehmen. Und wir haben das Gesicht eines der russischen Kriegsgefangenen zu sehen bekommen.

Wie sind Sie auf die Idee gekommen, bei Ihrem Projekt zum Thema Nationalsozialismus den Schwerpunkt auf russische Kriegsgefangene zu legen?

Im Nordkreis des Landkreises Cloppenburg gab es nur zwei jüdische Familien. Beide sind zwischen 1933 und 1938 weggezogen. Der Holocaust hat hier kaum Spuren hinterlassen. Dagegen liegen etliche russische Kriegsgefangene auf unseren Friedhöfen. Und ich habe mich gefragt, warum sich vor Ort niemand mit russischen Kriegsgefangenen beschäftigt hat. Der Volksbund Deutsche Kriegsgräberfürsorge hat uns Material zum Thema Kriegsgefangene geliefert, mit dem ich angefangen habe, im Geschichtsunterricht zu arbeiten. Nun müssen wir nicht mehr 150 km weit zur Gedenkstätte Bergen-Belsen fahren, wenn wir das Phänomen des Nationalsozialismus greifbar machen wollen.

Was wollten Sie mit Ihrem Projekt über russische Kriegsgefangene erreichen?

Ziel unseres Projekts war es, die ganze Geschichte des Nationalsozialismus aus der regionalen Geschichte heraus verständlich zu machen. Das funktioniert besser, wenn man vom Kleinen zum Großen schreitet. Das Projekt wendet sich an Realschüler der achten Jahrgangsstufe. Anhand von einzelnen Schicksalen können die Schüler besser begreifen, wie es im Nationalsozialismus zum Unrecht gekommen ist. Es gibt in Cloppenburg einen hohen Spätaussiedleranteil aus Russland, der zwischen 20 und 25 Prozent liegt. Für die russischstämmigen Schüler war das Projekt eine Anerkennung, denn nicht immer ist der Stellenwert von Spätaussiedlern in unserer Gesellschaft so hoch.

 „Die Nachkommen der Kriegsgefangenen verleugnen ihre Geschichte nicht“

Wie ist das Projekt abgelaufen?

Das Schulzentrum Saterland bietet schon seit acht Jahren den Wahlpflichtkurs „Heimatkunde“ als Doppelstunde in der achten Stufe an. Ein Kurs, der aus der Not geboren wurde, weil uns Fachlehrer für Naturwissenschaften fehlten. An dem Kurs beteiligten sich knapp 20 Schüler. Kollegen haben mich gefragt, ob ich bereit wäre, Aspekte der Geschichte zu vertiefen, für die sie im Unterricht kaum Zeit hätten. Mit einer Unterrichtsstunde in Geschichte kommt man schließlich nicht weit. Da das Thema Nationalsozialismus eigentlich erst für den Jahrgang neun vorgesehen ist, musste ich aufpassen, den Stoff in der achten Stufe nicht vorzuziehen. Dennoch kam ich um einige Themen der neunten Stufe nicht herum. Die Grundzüge der nationalsozialistischen Ideologie zum Beispiel habe ich nur kurz und knapp behandelt. Anders können Schüler nicht begreifen, warum Menschen im Nationalsozialismus so brutal behandelt wurden.

Elim
Das Bild zeigt den russischen Kriegsgefangenen Efim Ostashew,
der als russischer Kriegsgefangener sein Leben auf dem Moorgut in
Ramsloh gelassen hat. (Foto privat)

An welcher Stelle hakte es?

Einmal haben wir dem Redakteur einer Lokalzeitung ein Interview gegeben. Dabei wurde im Zeitungsartikel erwähnt, dass die Gräber der russischen Kriegsgefangenen in einem erbärmlichen Zustand gewesen seien. Der Friedhofgärtner fühlte sich durch das Interview auf den Schlips getreten und erwiderte: Macht es doch selbst! Für Pflege der Gräber der russischen Kriegsgefangenen hat der Friedhofgärtner nur eine geringe Aufwandsentschädigung bekommen. Dass man damit nur das Nötigste macht, ist nachvollziehbar.
Wenn man mit historischen Dokumenten aus der NS-Zeit arbeitet, bleibt es nicht aus, dass man auf bekannte Namen aus der Region stößt. Die Nachkommen jener Firmen, die im Landkreis Cloppenburg von der Zwangsarbeit profitiert haben, verleugnen ihre Geschichte nicht und haben gerne mit uns zusammengearbeitet.

Aussagen von Zeitzeugen im Unterricht

Zeitzeugen können anschaulich über historische Ereignisse aus ihrem Leben berichten. Erziehungswissenschaftler haben nun jüngst die Wirkung der Arbeit mit Zeitzeugen im Geschichtsunterricht untersucht. Danach ist die Arbeit mit Zeitzeugen zwar motivierender als ohne Zeitzeugen. Es besteht aber auch die Gefahr, dass die Schüler weniger lernen  ̶  sie erlangen weniger Einsicht in die Grundlagen der historischen Erkenntnis. Welche Erfahrungen haben Sie mit Zeitzeugen in Ihrem Geschichtsunterricht gesammelt?


Wer einen Zeitzeugen befragt, muss aufpassen, dass das Interview nicht in die falsche Richtung geht. Mit einer sechsten Klasse war ich einmal auf Wangerooge. Bei einer Wanderung haben mich die Schüler gefragt, warum es dort so viele Bunker gäbe. Über eine Recherche habe ich den 90-jährigen Herrn Jürgens kennengelernt. Er war im Zweiten Weltkrieg Flakhelfer und hat ein Buch über seine Kriegserlebnisse geschrieben. Als Zeitzeuge hat er meinen Schülern erklärt, warum es so viele Bunker auf der Insel gibt  ̶  und warum Krieg falsch ist. Er hatte allerdings auch behauptet, die Polen seien freiwillig nach Deutschland gekommen, um dort zu arbeiten. Das fand ich als Geschichtslehrer mehr als fragwürdig.

Was müssen Sie als Lehrer in solchen Situationen tun?

Den geschichtlichen Hintergrund des Zeitzeugen haben wir dann im Unterricht überprüft. Ich habe mit meinen Schülern im Internet recherchiert, ob es wirklich “freiwillige” polnische Arbeiter vor 1941 gegeben hat, die nach Deutschland gekommen sind, um hier zu arbeiten. Dies hat sich zwar bestätigt, aber von einer echten Freiwilligkeit konnte sicher nicht die Rede sein. Arbeitslosigkeit im Herkunftsland und der Druck der deutschen Regierung waren da schon eher die Gründe.

Autor: Arndt Zickgraf

Kompakt
Stefan Kühling, 43 Jahre, Grundschullehrer für Sachunterricht, arbeitet heute als Lehrer am Schulzentrum Saterland. Kühling unterrichtet die Fächer Geschichte, Erdkunde, Politik. Außerdem ist er für den Ernst Klett Verlag als Referent für Fortbildungen zum Thema Nationalsozialismus tätig.