Lehrkräfte und Kindheitspädagog:innen prägen den Ganztag an Schulen. Dort sollen sie kooperieren. Doch im Studium erfahren davon wenige etwas. Dr. Annette Scheible (PH Karlsruhe) und Dr. Juliana Gras (PH Weingarten) wollen das ändern. Ein Interview.
Künftige Lehrkräfte und Studierende im Fach Kindheitspädagogik sollen an Ganztagsgrundschulen stärker miteinander kooperieren. Sind sie darauf vorbereitet?
Dr. Annette Scheible: Ehrlich gesagt: die Allermeisten sind es nicht. Der Zertifikationskurs, den wir seit kurzem an der PH Karlsruhe anbieten, stellt bundesweit eine der wenigen Ausnahmen dar. Gemeinsame „Ausbildungsorte“, wie etwa in Berlin und Kassel, kann man vermutlich an einer Hand abzählen. Daran möchten wir etwas ändern.
Dr. Juliana Gras: Die Erfahrung habe ich als jemand, der an der Pädagogischen Hochschule Weingarten in den Lehramtsstudiengängen sowie der Kindheitspädagogik lehrt und forscht, auch sammeln müssen. Wir haben zusammengefunden, um die beiden Studiengänge stärker zu verzahnen und Studierende auf die Arbeit in Multiprofessionellen Teams vorzubereiten.
Was möchten Sie mit dem Forschungsprojekt „Multiprofessionelle Teams im Studium“ (MuTeS) erreichen?
Scheible: Es kann nicht sein, dass beide Studiengänge nebeneinanderher existieren, nicht aufeinander abgestimmt sind und am Ende sollen dann Lehrkräfte und Kindheitspädagog:innen im Ganztag auf einmal unvorbereitet, aber möglichst erfolgreich kooperieren. In unserem Projekt MuTeS gehen wir der übergeordneten Frage nach, inwiefern bereits im Studium Möglichkeiten gemeinsamer Erfahrungshorizonte von Studierenden beider Professionen geschaffen werden können, um sie so auf die Zusammenarbeit in multiprofessionellen Teams im Ganztag vorzubereiten. Ziel ist es, ein Seminarkonzept mit einer stärkeren Verzahnung beider Disziplinen zu entwickeln. Unsere im Rahmen einer ersten Teilstudie durchgeführte Befragung derjenigen, die noch keinerlei Erfahrung im gemeinsamen Studium gesammelt haben, soll uns Hinweise geben, wie wir künftige gemeinsame Seminare inhaltlich ausrichten müssen.
Gras: Dabei wollen wir unter anderem mögliche Vorurteile und falsche Vorstellungen gegenüber der jeweils anderen Profession erkennen und abbauen. Wir möchten herausfinden, was die eine Profession von der anderen weiß, was sie von ihr im gemeinsamen Arbeiten mit den Kindern erwartet. Auf Grundlage der so gewonnenen Erkenntnisse möchten wir Haltungen, Fähigkeiten und Kompetenzen aufbauen, die die Zusammenarbeit begünstigen. Wie notwendig das ist, unterstrich der Soziologe Prof. Dr. Aladin El-Mafaalani beim Ganztagskongress in Berlin vor einigen Monaten. Er sagte dort: „Wir haben keine etablierte Tradition von Institutionen, in denen multiprofessionelle Teams systematisch mit Kindern zusammenarbeiten, schon gar nicht im Schulsystem.“ Weiter heißt es im Bericht: „Was übrigens auch auf die Universitäten zutrifft“ (BMFSFJ 2024, S. 9)
Welche Vorurteile stehen einer erfolgreichen Kooperation der beiden Professionen konkret im Weg?
Scheible: Die Antworten der von uns Befragten spiegeln die Erkenntnisse der Wissenschaft wider. Nach wie vor weiß man zu wenig voneinander, sondern pflegt unbewusst die historisch gewachsenen Vorurteile. Sätze wie „die spielen ja nur mit den Kindern“ halten sich hartnäckig. Dabei sind sie schon in der Aussage unzutreffend. Denn auch im Spiel lernen Kinder, werden betreut und erzogen, beispielsweise zur Einhaltung von Regeln. Aus dieser „verkehrten“ Denkweise resultiert eine nach wie vor oft gelebte Hierarchie. Oben die Lehrkräfte – unten die pädagogischen Mitarbeitenden. Diese fördern das noch, indem sie selbst denken und sagen, dass das Lehramtsstudium schwieriger sei. Doch dafür gibt es keinerlei Beweise. Wenn das die Haltung gegenüber dem eigenen Studium ist, darf man sich nicht wundern, dass sich diese im Beruf fortsetzt.
Wie wollen Sie diese Vorurteile im Rahmen eines gemeinsamen Seminars aufbrechen?
Gras: Wir wollen das Bewusstsein für die jeweiligen Stärken und den Blick auf die professionsbezogenen Perspektiven schärfen. Das geschieht schon bei der Befragung, in deren Entwicklung übrigens ganz im Sinne der Partizipation die Studierenden eingebunden worden sind. Fragen wie: Was fällt Ihnen zur anderen Profession ein, wie denken sie darüber, welche Kompetenzen bringt die andere Profession ein, welche Bedürfnisse haben Sie und ihre künftigen Partner:innen in den multiprofessionellen Teams beim Kind im Blick? Dieses Nachdenken und der Austausch darüber weiten den Horizont. Dazu zählt auch eine verstärkte Biografiearbeit. Wenn ich verstehe, warum ich geworden bin, wie ich bin, welche Erfahrungen ich selbst – auch in Kita und Grundschule – gesammelt habe, dann kann ich innehalten und früh verinnerlichte Vorurteile revidieren. Zudem sollen das im Seminarkontext erworbene Wissen sowie die Einsichten und Haltungen in der Praxis in gemeinsamen Projekten zum Tragen kommen. Durch die direkte Zusammenarbeit sollen individuelle Fähigkeiten, Werte und Perspektiven der anderen Profession erfahrbar, gegenseitige Empathie und Verständnis gefördert und Abgrenzung verringert werden.
Wie groß ist der Nachholbedarf an Sensibilisierung für die Gelingensbedingungen von multiprofessionellen Teams in Baden-Württemberg?
Scheible: Ich denke: groß. Darum begrüßen wir den im vergangenen Schuljahr vom Land gestarteten Modellversuch „Multiprofessionelle Teams an Grundschulen“. 16 Schulen sind daran beteiligt. Diese 16 Modellstandorte wurden auf Grund ihres Sozialindexes in das Startchancenprogramm überführt. Mit dem Einsatz von multiprofessionellen Teams an Grundschulen sollen benachteiligte Schüler:innen durch die professionelle Zusammenarbeit von Pädagog:innen mit weiteren Fach- und Unterstützungskräften individuell gefördert und bestärkt werden.
Gras: Kritisch muss man anmerken, dass der Modellversuch lokal sehr unterschiedlich bekannt ist. Das müssen wir wohl auch als Indiz dafür werten, dass die Bedeutung der Arbeit in multiprofessionellen Teams nach wie vor nicht hoch genug eingeschätzt wird. Während es in Stuttgart beispielsweise bereits Fortbildungen zu diesem Thema gibt, suchen Sie in anderen Regionen des Landes noch vergeblich danach. Mit Blick auf den Rechtsanspruch auf Ganztagsbetreuung ab 2026 können wir nur raten, schnell zu handeln und die Professionen auf diese wichtige und nur gemeinsam zu bewältigende Aufgabe vorzubereiten. Die Zeit drängt.
Das Gespräch führte Stefan Lüke.
Kompakt
Im Dezember 2024 erschien der 2. Bericht zum Ausbaustand der ganztägigen Bildungs- und Betreuungsangebote für Grundschulkinder (GaFöG). Darin heißt es u.a.: „Aus der institutionenübergreifenden Kooperation von Schule und Kinder- und Jugendhilfe resultiert mit Blick auf die verschiedenen Berufsgruppen die Notwendigkeit einer berufsgruppenübergreifenden Kooperation, die grundlegend als die „Zusammenarbeit von pädagogisch Tätigen mit unterschiedlichen professionellen [und nicht-professionellen] Hintergründen“ (Kielblock et al. 2020, S. 48) verstanden werden kann. Fachlich und pragmatisch begründet (Speck 2020, S. 1456) spielt die berufsgruppenübergreifende Kooperation eine zentrale Rolle bei der Gestaltung ganztägiger Bildungs- und Betreuungsangebote.“ Weitere Informationen unter: https://www.bmfsfj.de/resource/blob/251606/4eb97254232538a2b405d3a49705883d/2-gafoeg-bericht-data.pdf