23. September 2024 – Medienbildung im Deutschunterricht: Zeile für Zeile lesen oder doch lieber scrollen? Der Lehrer und Schulbuchautor Tommy Greim zeigt im Gespräch einen Mittelweg auf: Sowohl Basiskompetenzen mit Hilfe von gedruckten Materialien erwerben als auch Medienkompetenzen für digitale Anwendungen trainieren. Aber bitte eins nach dem anderen.
Der Medienkonsum bei Kindern und Jugendlichen wird in der gesellschaftlichen Debatte oft kritisiert. Wie wirkt sich denn der intensive Gebrauch von digitalen Medien auf den Sprachgebrauch aus?
Das ist vielschichtig. Wir können beispielsweise beobachten, dass der Wortschatz der Kinder und Jugendlichen schrumpft. Viele Wörter sind ihnen heute nicht mehr so geläufig. Zum Beispiel tauchte bei einer Kafka-Lektüre im Deutschunterricht das Wort „Egge“ auf. Das Wort kannten sie nicht. Dafür benutzen sie Wörter aus dem Medienbereich und Anglizismen, das ist gut. Aber sie lesen insgesamt weniger, und das ist problematisch für den Wortschatz.
Kindern und Jugendlichen fällt es schwer, beim Schreiben abwechslungsreich zu sein. Das zeigt sich im Satzbau ihrer Texte. Die Schülerinnen und Schüler bilden oft einfache Sätze. Insgesamt ist die sprachliche Ausdrucksweise eher einfach. Es fehlt eine flexible Sprachwahl.
Jugendliche sind laut der JIM-Studie 2023 durchschnittlich 224 Minuten täglich online, ein Großteil entfällt dabei auf Messenger-Dienste. Das bedeutet, sie verbringen viel Zeit mit dem Lesen und Schreiben. Ist das nicht positiv?
Die Schülerinnen und Schüler schreiben zu Hause anders als in der Schule. Wenn sie online lesen, nehmen sie keine langen Texte mehr auf. Bilder und Videos konkurrieren mit dem Text. Und natürlich schreiben sie auch keine langen Texte über Whatsapp. Hier muss die Schule in Zukunft noch stärker ansetzen.
Bedeutet das, man muss mit Kindern und Jugendlichen verstärkt das Lesen und Schreiben üben?
Wir müssen den Jugendlichen zeigen, dass Schreiben situativ ist, dass es also in Ordnung ist, auch mal eine Whatsapp-Nachricht nur in Kleinbuchstaben zu schreiben. Alles andere wäre realitätsfremd. Sie müssen aber unterscheiden lernen, wann sie in welcher Situation wem schreiben. Wenn man das den Schülern nicht beibringt, verfestigt sich die flüchtige Groß- und Kleinschreibung, weil die Jugendlichen in ihrer Freizeit nicht auf die Rechtschreibung achten.
Medienkompetenz stärken: Die relevanten Informationen identifizieren
Seit Ende 2023 mehren sich Nachrichten, wonach skandinavische Länder wie Schweden und Dänemark bei der Digitalisierung von Schulen zurückrudern. Welche Konsequenzen ziehen Sie daraus für Ihre Unterrichtsentwicklung?
Manchmal habe ich den Eindruck, dass es in den deutschen Schulen nur noch um Digitalisierung geht. Digitalisierung ist ein Baustein, der in den Deutschunterricht gehört. Der Digitalpakt ist wichtig, aber es braucht auch gute didaktische Konzepte. In den skandinavischen Ländern wird stärker darauf geachtet, wie digitale Medien das Lernen unterstützen können − und nicht nur Spielerei sind. Deshalb gehen wir an unserer Schule einen Mittelweg, wir setzen digitale Medien ein, aber sinnvoll.
Was zeichnet Ihren Mittelweg aus? Welche Anforderungen stellen Sie an digitale Medienkonzepte im Deutschunterricht?
Wir haben Profilunterricht, in dem es um Medienerziehung geht. In diesem Zusammenhang wird viel mit Texten gearbeitet. Hierbei lernt man etwa zu unterscheiden, ob ein Artikel informiert, argumentiert oder manipuliert, ob er objektiv oder subjektiv ist. Die Schülerinnen und Schüler sollen sich in der Vielfalt der Möglichkeiten zurechtfinden. Das Schwierigste für sie ist es, aus der Fülle der Informationen die richtigen herauszufiltern.
Theoretisch sollte man in der Lage sein, herauszufinden, was für einen nützlich ist. Deshalb trainiere ich mit den Schülern Suchstrategien, mit deren Hilfe sie relevante Inhalte finden können. Das Impressum zu finden, ist in der achten Klasse manchmal eine Herausforderung.
Ich sage den Schülerinnen und Schülern immer: Ihr habt es heute eigentlich schwerer als ich. Wenn ich mir früher für ein Referatsthema ein Buch ausgeliehen habe, dann war die Wahrscheinlichkeit groß, dass da auch relevante Inhalte drin waren. Ihr habt es scheinbar leichter, ihr müsst nicht in die Bibliothek gehen und benutzt eine Suchmaschine. Aber die findet fünf Millionen Ergebnisse zu eurem Thema.
Der feine Unterschied: Lesen und digital lesen
Wie kann man digitale Medien in den Deutschunterricht sinnvoll integrieren?
Die Lebenswelt der Kinder und Jugendlichen ist digital, sie werden in eine Arbeitswelt eintreten, in der sie digital lernen müssen. Die Kernkompetenz des Deutschunterrichts bleibt aber das Lesen und Schreiben lernen. Wir vermitteln, wie sie mit gedruckten Texten arbeiten, gleichzeitig aber auch wie sie mit digitalen Medien umgehen können.
Dafür verwenden wir zum Beispiel die Fünf-Schritt-Lesemethode, die fast jeder Schüler bei uns lernt. Diese Lesestrategie hilft dabei, Inhalte von Texten besser zu erfassen, das lässt sich auch auf das digitale Lesen übertragen. Mädchen und Jungen neigen dazu, Texte im Internet zu überfliegen. Durch das Scrollen liest man automatisch schneller, ist sich dessen aber nicht bewusst. Wir trainieren mit ihnen dieses bewusste, langsame Lesen bis zum Ende. Wenn nötig, kopiere ich den Text und arbeite damit weiter. Die Kompetenzen, die die Schülerinnen und Schüler traditionell im Deutschunterricht erwerben, werden durch das Lesen und Schreiben mit digitalen Endgeräten ergänzt.
Kernkompetenzen, die für Erwachsene im Umgang mit gedruckten Texten selbstverständlich sind, sind für Kinder und Jugendliche im Umgang mit digitalen Medien aber nicht selbstverständlich. Sie denken, sie können das gut, aber das täuscht. Klar, Apps und ihre Funktionen durchschauen sie ziemlich schnell. Aber wirklich sinnvoll damit zu arbeiten, das fällt ihnen oft schwer. Deshalb haben wir festgelegt, dass die Schülerinnen und Schüler frühestens ab der zehnten Klasse komplett mit Tablets arbeiten dürfen. Eine reine Tablet-Klasse haben wir nicht, weil wir darin keinen Mehrwert sehen. Wir wollen eine Mischung.
Nah an der Lebenswelt: Spielanleitungen für Computerspiele verfassen
Wo stößt der Deutschunterricht mit Tablets an seine Grenzen?
Wenn es nur ums Lesen geht, sind die Geräte überflüssig. Solange die Schülerinnen und Schüler noch nicht richtig digital lesen können, bevorzuge ich gedruckte Texte. Hier können sie in Ruhe lesen, Textstellen unterstreichen und sich Notizen machen. Die Verständnisleistung beim Lesen gedruckter Medien ist um mehr als 30 Prozent höher als bei digitalen Medien.
Ich bin ein Freund der Handschrift. Handschrift ist Gehirnschrift. Wenn Schülerinnen und Schüler Unterrichtsinhalte mit der Hand aufschreiben, verarbeiten sie diese intensiver und nachhaltiger. Das ist wissenschaftlich belegt. Auf dem Tablet zu tippen, geht zwar schneller, aber beim Handschreiben hat das Gehirn mehr Zeit, den Text zu verarbeiten.
Wie sind Sie zum Schwerpunkt Medienbildung in Deutsch gekommen?
Während meines Studiums, meiner Magisterarbeit und später als Lehrer habe ich zusammen mit einer Kommilitonin ausprobiert, wie man Deutschunterricht mit Computerspielen verbinden kann. Ich habe verschiedene Klassen unterrichtet, eine mit und eine ohne Computerspiele. Ich habe den Lerneffekt untersucht und herausgefunden, dass es gut funktioniert, wenn man ein narratives Computerspiel einsetzt, in dem eine Geschichte erzählt wird, die zum Lernen und vor allem zum Lesen anregt. Es hat sich gezeigt, dass vor allem Jungen, die sonst eher still sind, verstärkt am Deutschunterricht teilgenommen haben − Computerspiele sind vor allem ein Jungenphänomen. Daraufhin habe ich mit einer Kommilitonin Arbeitsmaterialien entwickelt, zum Beispiel zur Inhaltswiedergabe, zur Charakterisierung von Figuren, zur Inhaltsangabe von Geschichten.
Wir haben festgestellt, dass es neben dem klassischen Literaturunterricht, Grammatik und Rechtschreibung, auch andere Wege gibt, Jugendliche für das Schreiben und Lesen zu begeistern. So hat alles angefangen.
Vielen Dank für das Gespräch, Herr Greim!
Das Gespräch führte: Arnd Zickgraf
Zur Person
Tommy Greim, 36 Jahre, ist stellvertretender Schulleiter des Lessing-Gymnasiums in Döbeln (Sachsen) und Autor beim Klett-Verlag. Er ist bekannt für seine praxisnahen Unterrichtsmaterialien, die oft innovative Ansätze wie den Einsatz von Computerspielen im Deutschunterricht beinhalten.
Medien-Tipp
Die digitale Lebenswelt ist längst Teil des schulischen Unterrichts und wird beispielsweise eng mit den Lernzielen im Fach Deutsch verknüpft. In aktuellen Unterrichtsmaterialien wie der Reihe Deutsch kompetent wird die Kommunikation in sozialen Netzwerken von den Schüler:innen ebenso untersucht wie Erzählstränge in Computerspielen, Filmen oder Jugendbüchern.