Schüler suchen in KZ-Gedenkstätten handfeste Spuren der Vergangenheit. Im Unterricht spielen historische Gegenstände kaum eine Rolle. Ein Beitrag zur Bedeutung von Originalgegenständen in der pädagogischen Arbeit.
Ein kleines verrostetes Metallteil liegt in einer Vitrine. Wer näher kommt, kann darunter lesen: „Lippenstift einer Gefangenen des KZ Ravensbrück vor 1945.“ Zusätzlich erfährt der Besucher in der Dauerausstellung der heutigen Gedenkstätte, dass solche Lippenstifte von Frauen in Ravensbrück benutzt wurden, um gesünder auszusehen – so wollten sie sich vor der drohenden Selektion und Ermordung schützen. „Ein Lippenstift wirkt an diesem Ort irritierend, berührt einen und kann zum Nachdenken anregen“, sagt die Bremer Ausstellungskuratorin Andrea Hauser, eine von rund 100 Teilnehmern einer Fachtagung der Stiftung niedersächsische Gedenkstätten zum Thema „Lernen mit Sachquellen in Gedenkstätten und Museen“ kürzlich in Celle. Die Generation der Überlebenden der KZ wird immer kleiner, und so kommt der Auseinandersetzung mit Originalgegenständen aus den KZ in der pädagogischen Arbeit eine wachsende Bedeutung zu.
„Gerade für Jugendliche sind die erhaltenen Spuren bedeutsam“, sagt Katja Anders, pädagogische Mitarbeiterin der Gedenkstätte Sachsenhausen. Dort werden Führungen angeboten, in denen Schüler Fotos von Objekten machen, die sie besonders beschäftigen. Diese Fotos dienen dann als Grundlage, mehr über ihre Geschichte zu erfahren. „Die baulichen Relikte erzählen von sich aus keine Geschichte, sondern sie werden immer gedeutet“, sagt Anders.
In der DDR waren Besuche von KZ-Gedenkstätten für Schüler Pflicht. Jens-Christian Wagner, Geschäftsführer der Stiftung niedersächsische Gedenkstätten, lehnt solch einen Zwang ab – nicht zuletzt wegen der von vielen Ostdeutschen einst als Indoktrination empfundenen Führungen in Gedenkstätten wie Sachsenhausen, Ravensbrück oder Buchenwald. Wagner betont demgegenüber die Bedeutung des so genannten Überwältigungsverbotes, wonach Lehrende Schülern keine Meinung aufzwingen dürfen, sondern sie in die Lage versetzen sollen, sich eine eigene Meinung zu bilden. Auf diesen Grundsatz hatten sich im Beutelsbacher Konsens Politikdidaktiker auf einer Tagung der Bundeszentrale für politische Bildung in den 70er Jahren geeinigt.
Nach Bergen-Belsen kommen jährlich 250 000 Besucher, die Wartezeit für Gruppenführungen beträgt ein Jahr. „Wir haben mit sehr offenen Schülern zu tun. Je näher die Umgebung ist, aus der sie kommen, umso enger ist der persönliche Bezug“, sagt Petra Höxtermann, Gymnasiallehrerin aus Celle, die an zwei Tagen der Woche Schüler aus 9. und 10. Klassen in Bergen-Belsen führt. Zum Einstieg können sie Aktenordner aus dem KZ oder Funde aus dem Lager wie Löffel oder Schüsseln in die Hand nehmen und überlegen, welche Bedeutung sie hatten. „Die Schüler mögen das“, sagt Höxtermann.
Wie stark sie mit Originalen arbeitet wie z.B. mit in der Gedenkstätte ausgestellten Handschuhen, die einst eine Gefangene für ein kleines Mädchen im Lager gestrickt hatte, hängt von ihrer Gruppe ab. „Mittelschüler brauchen mehr anschauliches Material, sonst ist das Thema für sie oft zu abstrakt. Dafür bringen sie sich mehr ins Gespräch ein als Gymnasiasten“, sagt die 47-jährige Lehrerin für Englisch und Geschichte. Sie hat auch schon häufiger Treffen mit KZ-Überlebenden organisiert. „Nach so einer Veranstaltung bildet sich immer eine Traube um den Zeitzeugen, weil viele Schüler sich erst im kleinen Kreis trauen, Fragen zu stellen. Für alle ist so ein direkter Kontakt eine bleibende Erinnerung.“
Sachquellen werden im Unterricht viel zu selten eingesetzt – das kritisiert der Geschichtsdidaktiker Dietmar von Reeken von der Universität Oldenburg. „Ein eigener Fundus wäre sinnvoll, ähnlich wie eine biologische Sammlung. Es fehlt in Schulen an historischen Gegenständen und es fehlt am Wissen der Lehrer, wie man damit umgeht. In der 5. Klasse wird manchmal gesagt: ‚Bringt mal was von früher mit‘ und die Lehrer wissen dann oft nicht mehr darüber als die Schüler“, sagt von Reeken.
Er berichtet von einer Studie, in der Schüler der Mittelstufe Lebensmittelkarten im Original bekamen und sich 20 Minuten damit beschäftigen sollten, ohne konkrete Arbeitsanweisung. Sie gingen sehr vorsichtig mit den mehr als 70 Jahre alten Karten um, stellten Vermutungen über ihre Herkunft und Funktion an, formulierten Fragen, bezogen ihr Vorwissen bei ihren unterschiedlichen Deutungsversuchen mit ein und zeigten großes Engagement, näheres über die Lebensmittelkarten zu erfahren. „Wichtig ist bei solch einem Vorgehen, dass man die Unsicherheit, wie das ganze verlaufen wird, aushalten kann und man genügend Zeit einplant. Leider gibt es keine empirische Forschung über die Wirkung von Sachquellen im Unterricht“, sagt von Reeken.
„Schule im Nationalsozialismus“
Einen besonderen Weg bei der Vermittlung ist das Schulmuseum Nürnberg gegangen. Es hat vier Schulklassen – 15 und 16 Jahre alte Jugendliche aus drei Mittelschulen und einem Gymnasium – eingeladen, aus ihrer Sammlung für die Ausstellung „Schule im Nationalsozialismus“ Gegenstände auszuwählen und Lernstationen zu entwickeln, die dann von anderen Schulklassen getestet wurden. Innerhalb von drei Jahren entstand so eine Ausstellung, in der immer ein zentrales Objekt aus der NS-Zeit wie z.B. eine Rassekundetafel, eine Darstellung einer Zwangssterilisierung, ein Poesiealbum oder eine Übungshandgranate an jeweils einer Station gezeigt und dazu eine Frage gestellt wird, die dabei helfen soll, sich den Inhalt zu erschließen. Die Besucher können alleine entscheiden, für welche Station sie sich interessieren.
Am Ende der Ausstellung befindet sich der Austauschraum mit Abbildungen der gerade gesehenen Gegenstände – hier kann man miteinander über die wichtigsten Eindrücke und offene Fragen ins Gespräch kommen. Bisher war die Ausstellung in Luzern und in Nürnberg zu sehen. „In der Schweiz haben Forscher, die die Schüler beim Besuch beobachtet haben, eine hohe Aufmerksamkeit durch das Lernsetting festgestellt. In Nürnberg haben mehr als die Hälfte der befragten 700 der Ausstellung die Note 1 gegeben“, sagt Ausstellungskurator Udo Andraschke.
Autor: Joachim Göres
Bildquellen: FAU Erlangen-Nürnberg
Kompakt
Historische Gegenstände aus der NS-Zeit, die sie anfassen und betrachten können, erleichtern vielen Schülern den Zugang zu dieser für sie weit zurückliegenden Periode. Angesichts der nur noch geringen Anzahl an KZ-Überlebende nimmt die Bedeutung solcher Relikte zu. Ihre Wirkung hängt nach Ansicht von Experten davon ab, dass sie erklärt und in einen geschichtlichen Zusammenhang gestellt werden. Zu selten würden solche Sachquellen im Unterricht eingesetzt.