Klett-Themendienst Nr. 102 (10/2021)

Vor dem Hintergrund eines tiefgreifenden gesellschaftlichen, ökonomischen und technologischen Wandels benötigen Schülerinnen und Schüler Kompetenzen, die einen anderen Fokus auf das Leben und Arbeiten setzen. Ein Autorenteam des Ernst Klett Verlages über die Bedeutung der situativen Herangehensweise im Fach Gesellschaftslehre und über notwendige Zukunftskompetenzen für die Gesellschaft.

Sie haben an dem neuen Lehrwerk „Anstöße – Gesellschaftslehre mit Geschichte“ mitgearbeitet. Wie unterscheiden sich heutige Unterrichtskonzepte in den gesellschaftswissenschaftlichen Fächern gegenüber früheren Ausgaben?

Köchling: Wir sind zunächst davon ausgegangen, dass kompetentes Handeln im Fokus der Oberstufe steht und nicht „totes“ Wissen, also reines Fachwissen, welches nicht in den Zusammenhang mit Fertigkeiten und Fähigkeiten gesetzt werden kann.

Es geht uns nicht allein darum, Grundkenntnisse über Gesellschaft, Politik und Wirtschaft zu vermitteln, sondern komplexe Prozesse und gesellschaftliche Folgen in den Blick zu nehmen, also Handlungsoptionen zu erkennen – und zu ergreifen. Gesellschaftliche Themen wie Nachhaltigkeit und Gendergleichheit werden im Buch konsequent adressiert – sowohl didaktisch als auch methodisch. Ebenso ist die digitale Realität ein zentrales Thema, das wir über alle Kapitel hinweg transportieren: Neue Medien in der Demokratie und die Meinungsbildung in der digitalen Sphäre, die Digitalisierung der Arbeitswelt, Arbeit 4.0, werden dezidiert zum Unterrichtsthema.

Das Lehrwerk will für ein realistisches, politisches Handeln sensibilisieren. Wichtig ist, Schülerinnen und Schüler mit Kompetenzen auszustatten, die sie auch in Zukunft brauchen werden, um die Handlungsfelder Globalisierung, Digitalisierung oder Nachhaltigkeit mitzugestalten.

Was ist didaktisch und methodisch innovativ an diesem Ansatz?

Brathe: Die situative Herangehensweise. Ein Beispiel: Der Begriff „Erschöpfung“ eignet sich zum Einstieg in das Kapitel Politik, weil Erschöpfung bei Schülerinnen und Schülern, Eltern und Lehrkräften heutzutage ein weitverbreitetes Phänomen ist. Erschöpfung ist Teil der Lebenswelt in modernen Gesellschaften. So haben wir die einführende Doppelseite zur Politik mit einer Reihe von Fotos und einer Grafik illustriert. Auf den Fotos sind Kinder zu sehen: ein westliches Mädchen, das erschöpft auf sein Handy starrt, daneben ein afrikanischer Junge in der Kobaltmine, darunter sieht man ein asiatisches Kind, das Akkus von Handys zusammenbaut. Alle drei Kinder sind erschöpft, aber jedes hat eine andere Perspektive auf das Handy, das mit Erschöpfung zusammenhängt. Die drei Fotos laufen auf eine aktuelle Grafik zum „Welterschöpfungstag“ hinaus. Auf diese Weise haben wir in einer Collage Herausforderungen des 21. Jahrhunderts verdichtet: die Herausforderung der Globalisierung, die Klimakatastrophe mit dem Welterschöpfungstag und die Herausforderung der Digitalisierung mit dem Handy als Symbol.

Anhand dieser Doppelseite können sich die Schülerinnen und Schüler die Herausforderungen des 21. Jahrhunderts selbst erschließen, sie können selbst Fragen formulieren und selbstständig in die langfristige Unterrichtsplanung einsteigen. Die Jugendlichen haben – basierend auf den Formulierungen von Fragen – am Ende des Kapitels die Möglichkeit, sich berufsfeldspezifisch ein Urteil zu bilden. Das ist das Innovative. 

„Zukunftsorientierte Gestaltungsoptionen eröffnen“

Wenn Sie an die Hochwasserkatastrophe in Rheinland-Pfalz, NRW und Bayern von Juli 2021 denken, woher nehmen Sie die Zuversicht, dass die größten Herausforderungen des 21. Jahrhunderts tatsächlich zu bewältigen sind?

Brathe: Zunächst haben wir die vier größten Herausforderungen unserer Gesellschaft antizipiert. Das sind die gesellschaftlichen Felder, in denen dringend gehandelt werden muss. Eine davon ist die Klimakatastrophe. Als Autorinnen und Autoren haben wir bewusst den Begriff „Klimakatastrophe“ gewählt, um zu unterstreichen, dass diese Herausforderungen eine besondere Schärfe haben. Gleichzeitig wollen wir keine Apokalypse an die Wand malen, sondern ein Schulbuch verfassen, welches zukunftsorientierte Gestaltungsoptionen eröffnet. Wir haben nicht die Absicht, negative Zukunftsbilder zu zeichnen, sondern – ganz im Gegenteil – Gestaltungsoptionen zu eröffnen.

Die Kriegsgeneration hat die totale Zerstörung ihrer Gesellschaft erlebt und innerhalb von zwei Generationen den uns bekannten Wohlstand aufgebaut. Angesichts der Klimakatastrophe stehen wir vor ähnlichen Herausforderungen. Bei unserer Mobilität und Energieversorgung müssen wir uns auf neue Verhältnisse einstellen.

Ich glaube, unsere Gesellschaften haben diese Ressourcen zur Veränderung, wenn man sie weckt. Lehrkräfte können dazu einen Beitrag leisten. Ihnen stellt sich die schwierige Aufgabe, den Glauben daran aufrechtzuerhalten, dass die Herausforderungen zu bewältigen sind und die Schülerinnen und Schüler zum Handeln zu befähigen. Ansonsten kommt die jüngere Generation nicht ins Handeln, sondern wird paralysiert. Hier kommen diverse Methoden ins Spiel: Pro- und Kontradebatte, Zukunftswerkstatt und andere. Die Methoden ergeben sich in der Regel durch die Arbeit mit den Auftaktdoppelseiten.

Können Sie vielleicht an einem Beispiel erläutern, wie mit dem Schulbuch „Anstöße“ der Unterricht in Gesellschaftslehre zur Lösung von gesellschaftlichen Problemen beitragen kann?

Köchling: Man kann das an der Gefährdung der Demokratie festmachen, die im dritten Kapitel zu Demokratie und Diktaturen in der deutschen Geschichte thematisiert wird. Da geht es um den Nationalsozialismus und die Zeit der Diktatur in der DDR. Das Kapitel ist bewusst anders aufgebaut, als es bei einer rein historischen Betrachtung gegliedert wäre.

Zunächst beginnt das Kapitel mit Merkmalen von Unrechtsstaaten, Autokratien und Demokratien. Im anschließenden Themenblock wird erörtert: Wie werden demokratische Systeme ausgehöhlt? Dann erst werden die historischen Ereignisse im Nationalsozialismus und in der DDR dargestellt. Auf diese Weise haben wir eine Vergleichsfolie geschaffen, die der Einordnung der Entwicklungen in unserer gegenwärtigen Gesellschaft dient. So können schleichende Prozesse der Aushöhlung unserer Demokratie sichtbar gemacht werden, wie man es derzeit in Ungarn oder Polen erkennen kann. Mit einer Vergleichsfolie im Hinterkopf, die aktuelle und historische Bezüge zusammenführt, werden Schülerinnen und Schüler sensibilisiert für die Vielschichtigkeit gesellschaftlicher Prozesse. Sie nehmen die Diktatur im Nationalsozialismus und in der DDR nicht mehr als reines Fachwissen wahr.  

Sie lehnen die Vermittlung reinen Fachwissens ab. Wie kann man Gesellschaftslehre schülernah lebendig und nachhaltig unterrichten?

Brathe: Das Thema „Demokratie und Diktatur in der deutschen Geschichte“ wird im Schulbuch „Anstöße“ anhand einer Lernsituation auf einer Doppelseite eingeführt. Dort ist auf einem Foto ein Motivwagen des Düsseldorfer Karnevals am Rosenmontag 2017 zu sehen. Auf dem Motivwagen wird ein grünes Pflänzchen durch die Menge gefahren, das von fünf Raupen angefressen wird: Putin und Orban fressen das Pflänzchen von oben an. Kaczyński und Trump knabbern es von unten an. „Demokratiefresser“ ist das Foto benannt. Die Lernsituation stellt einen Lackmustest für moderne Demokratien dar. Exemplarisch sollen die Schülerinnen und Schüler nun herausfinden, was Demokratie gegenwärtig bedeutet, wie zart die Pflanze der Demokratie nicht nur im Osten, sondern auch im Westen ist und welchen Herausforderungen sie ausgesetzt ist. Politischer Hintergrund der Lernsituation ist, dass viele Antidemokraten als demokratisch gewählte Politikerinnen und Politiker an die Macht kommen und sich verpuppen, während sie an der Regierung sind. Mit der Zeit entpuppen sich Demokraten als Autokraten.

Anhand einer Tabelle mit kritischen Fragen lässt sich klären, welches Element der Demokratie von Antidemokraten angegriffen wird: Wird die Verfassung abgelehnt? Werden politische Gegnerinnen und Gegner als Kriminelle verunglimpft? Werden Gesetze oder politische Vorhaben unterstützt, die politische Freiheiten beschneiden? So können Schülerinnen und Schüler auf der Basis aktueller politischer Situationen das Wissen erwerben, das sie brauchen, um zu einem begründeten Sachurteil zu kommen und kritisch Stellung beziehen. Den Weg und das Ziel des Lernprozesses steuern die Schülerinnen und Schüler im Idealfall auf Basis der hier angesprochenen Doppelseite selbstständig.

Was haben Sie selbst gelernt, während Sie das Lehrbuch „Anstöße“ verfasst haben?
Köchling: Wir haben erlebt, was Dynamik und Aktualität bedeuten. Während wir das Buch gemeinsam geschrieben haben, war der Brexit noch nicht vollzogen. Es war ungewiss, ob der Brexit geregelt oder ungeregelt vollzogen wird. Das Bundesverfassungsgericht hat ein Urteil zur gerechten Verteilung der Lasten des Klimawandels gefällt. Die Pandemie, die uns jetzt in Atem hält, ist auf die Bühne von Politik und Gesellschaft getreten. Im Zuge dieser dynamischen Veränderungen haben wir die Teamarbeit auf verschiedensten Ebenen schätzen gelernt. Das Team hat als Korrektiv gewirkt.

Autor: Arnd Zickgraf

Zur Person
Jörg Köchling leitet das Seminar für das Lehramt an Berufskollegs am Zentrum für schulpraktische Lehrerausbildung Gelsenkirchen. Er unterrichtet die Fächer Katholische Religionslehre, Politik / Gesellschaftslehre und Philosophie. Er ist Autor mehrerer Schulbücher im Ernst Klett Verlag.

Maria Brathe ist Fachleiterin für Politik, Gesellschaftslehre, Wirtschaftslehre / Politik und im Kernseminar am Zentrum für schulpraktische Lehrerausbildung Gelsenkirchen. Sie unterrichtet zudem das Fach Ernährungs- und Hauswirtschaftswissenschaft. Sie ist Autorin mehrerer Schulbücher im Ernst Klett Verlag.

Buchtipp:
„Anstöße – Gesellschaftslehre mit Geschichte“ heißt die neue Bundesausgabe 2021 für berufliche Gymnasien der Klassen 11 bis 13.
Sie verknüpft klassische Themen der Gesellschaftslehre mit politischer Bildung und richtet den Blick auf aktuelle gesellschaftliche Herausforderungen. Sprachsensible Texte, Worterklärungen, differenzierende Angebote sowie vielfältige digitale Materialien für verschiedene Lerntypen helfen den Lernenden, ihre Ziele sicher zu erreichen.
https://www.klett.de/produkt/isbn/978-3-12-416910-5