Klett-Themendienst Nr. 110 (12/2022)

Gedichte spielen in allen Altersstufen im Deutschunterricht eine Rolle. Bei vielen Mädchen und Jungen erfreuen sie sich großer Beliebtheit, bei Jugendlichen ist das Interesse an eigener Produktion oft größer als am Analysieren.

„Tastend streckt sich ihr Gehörne./Schwach nur ist das Augenlicht./Dennoch schon aus weiter Ferne/Wittern sie ihr Leibgericht.//Schleimig, säumig, aber stete,/Immer auf dem nächsten Pfad,/Finden sie die Gartenbeete/Mit dem schönen Kopfsalat.“ Zwei von sieben Strophen des Gedichtes „Die Schnecken“ von Wilhelm Busch, das Thea fließend, laut und mit Betonung vorträgt. Für das Mädchen aus der 3. Klasse ist heute ein besonderer Tag – sie und weitere GrundschülerInnen aus der Dahlhofschule Sülze stehen in der Fußgängerzone im niedersächsischen Celle, rezitieren Gedichte und ziehen damit die neugierigen Blicke und den Beifall der Passanten auf sich. „Das ist ein schönes Gedicht. Ich habe die sieben Strophen in vier Tagen gelernt, das war nicht schwer“, erzählt Thea.

Ausgesucht hat es ihre Deutschlehrerin Lara-Sophie Wultschnig. „Wir fangen schon bei den Erstklässlern mit Gedichten an, sie spielen an unserer Schule in allen Altersstufen eine große Rolle. Viele Kinder haben Freude daran. Fast alle wollten gerne beim öffentlichen Vortragen in der Fußgängerzone mitmachen. Ich musste mich für einige Schüler entscheiden, weil gar nicht für alle genug Zeit war“, sagt Wultschnig. Texte mit Tieren sind nach ihren Worten sowohl bei Mädchen als auch bei Jungen besonders beliebt. „Auch Kinder, die nicht so gut sind, mögen Gedichte, denn das Reimen macht es ihnen einfacher, sie zu verstehen. Auch die Möglichkeit, gestenreich die Strophen vorzutragen, gefällt einigen“, sagt Wultschnig.

„Kinder lieben Gedichte, das erlebe ich immer wieder“, bestätigt der Kinderbuchautor Martin Ebbertz und fügt hinzu: „Wenn ich bei Lesungen im Unterricht Gedichte vortragen will, reagieren Lehrer manchmal skeptisch, ich muss sie erst davon überzeugen. Sie sind dann überrascht, wenn die Klasse gut mitmacht, konzentriert zuhört, mitspricht, witzige Stellen erkennt.“ Ebbertz, der in seinem Offenbacher Razamba-Verlag eigene und fremde Kurzgeschichten und Gedichte veröffentlicht, erlebt dabei durchaus unterschiedliche Reaktionen: „Nicht jeder und jede versteht immer alles. Aber das Musikalische der Gedichte spricht auch diejenigen an, die nicht alles mitbekommen.“ Auf offene Ohren stoßen bei seinen jungen ZuhörerInnen auch Gedichträtsel wie das Folgende unter dem Titel „Wenn es fehlt“: „wird man eine Schere  rauchen/um des  auern  art zu schneiden/muss in tiefe  ecken tauchen/möchte man nicht trocken  leiben/und der Himmel ist ganz  lau/ ravo! Wer das weiß, ist schlau!“

Lucie, Anna und Carlotta aus der 6. Klasse des Celler Kaiserin-Auguste-Viktoria-Gymnasiums haben in der Fußgängerzone einen kleinen Stand aufgebaut, an dem Vorübergehende eine Drehscheibe in Schwung bringen können. Auf der Drehscheibe stehen die Namen der vier Jahreszeiten – je nachdem, wo der Zeiger stehen bleibt, sagt eines der Mädchen ein selbstgeschriebenes Frühlings-, Sommer- oder Herbstgedicht auf. „Liebe, Gefühle, Jahreszeiten, das sind schöne Themen für Gedichte. Ich muss die gar nicht extra lernen, beim Abschreiben merke ich mir den Text“, sagt Carlotta. „Wir beschäftigen uns in Deutsch gerade mit Berichten. Gedichte fände ich besser“, sagt Lucie. Mit ihrer Begeisterung für gereimte Verse sind sie allerdings in der Minderheit, räumt Anna ein: „Die anderen aus der Klasse hatten keine Lust, hier mitzumachen.“

Ein paar Meter weiter stehen alle SchülerInnen einer 10. Klasse der Oberschule Westercelle. Sie haben sich im Deutschunterricht mit Poetry Slam beschäftigt und jeder hat einen persönlichen Text geschrieben, der nun vom Blatt abgelesen den Passanten vorgetragen wird. Die 16-Jährige Juli drückt ihre Empörung über aktuelle Entwicklungen so aus: „Ich kann dir sagen, hier läuft sehr viel schief/Verkaufen Waffen, aber wollen keinen Krieg/Als Mann hätt‘ ich ein höheres Gehalt/Und immer noch kümmert sich niemand um Polizeigewalt/Auf Graffitikünstler wird dauernd gehetzt/Doch werden ein paar Striche für Millionen verkauft/dann ist niemand entsetzt.“ Weitere Strophen folgen, in denen es um Nazis im Landtag und die Naturzerstörung geht. „Das Fach Deutsch finde ich sonst nicht so toll, aber das Schreiben der eigenen Texte, das Vortragen sowie die Diskussion in der Klasse haben sehr viel Spaß gemacht“, sagt Juli.
Elke Nießler unterrichtet an der OBS Westercelle Deutsch und Religion. Sie ist begeistert, mit welchem Engagement die 10. Klasse ihre eigenen Gedanken zu Papier gebracht und als Poetry Slam vorgetragen hat. „Einige hat das Überwindung gekostet, aber bei allen merkt man den Stolz, sich zu präsentieren“, sagt Nießler. Die Interpretation von Gedichten in der 9. und 10. Klasse gehört zur Vorbereitung auf die Abschlussarbeiten. „Das fällt vielen recht schwer. Die sprachlichen Hürden sind groß, wenn es um Metaphern und Symbolik geht. Zudem gibt es zunehmend Lücken im Wortschatz. Andererseits helfen gerade gereimte Zeilen, häufig unbekannte Wörter wie ‚töricht‘ oder ‚geschwind‘ zu erklären, die oft in Gedichten auftauchen – geschwind reimt sich auf Wind“, sagt Nießler.

Marc Oliver Lilienthal, Deutschlehrer an einem altsprachlichen Berliner Gymnasium, macht ähnliche Erfahrungen. „Auch wir müssen immer mehr Wortschatzarbeit machen, weil Wendungen unbekannt sind“, sagt er und ergänzt: „Die Analyse von Gedichten und das Erkennen von literarischen Mitteln ist klausurrelevant und daher Pflicht, es wird von Schülern eher lustlos betrieben. Die eigene Produktion von Texten und das szenische Lesen ist oft mit einer größeren Motivation verbunden, doch das ist die Kür, die nicht überall stattfindet.“ Lilienthal hat als Vorsitzender des Landesverbandes Deutsch Berlin-Brandenburg im Deutschen Germanistenverband in den letzten Jahren Fachtagungen zu den Themen „Chancen und Hürden modernster Lyrik im Deutschunterricht“ und „Naturlyrik zwischen Nachtigall und Klimawende“ organisiert – Themen, die im Deutschunterricht der Oberstufe zuletzt behandelt wurden. „Gerade wenn es um zeitgenössische Lyrik geht, muss man über Qualitätskriterien für die Auswahl von Gedichten sprechen. Und es stellt sich auch die Frage, wie man den Stoff didaktisiert“, sagt Lilienthal.

Er erlebt bei SchülerInnen, die kurz vor dem Abitur stehen, viel Distanz zu experimentellen Formen und kritischen Inhalten: „Sonnenuntergänge sind schöner als verstörende Beschreibungen. Moderne Lyrik will nicht schön sein, sie vermeidet bewusst Harmonie und setzt auf Brüche. Jugendliche wollen das nicht. Traditionelle Lyrik hat einen leichteren Stand. Rilkes Panther geht immer.“

Text: Joachim Göres

Kompakt
Nach der Erfahrung von Lehrkräften erfreuen sich Tiergedichte bei Kindern großer Beliebtheit. Gereimte Strophen erleichtern SchülerInnen, die Probleme mit der deutschen Sprache haben, oft das Verständnis und erhöhen die Motivation. Durch die Poetry-Slam-Bewegung sind Gedichte für viele Jugendliche wieder attraktiver geworden. Sie schätzen es, wenn sie ihre eigenen Gedanken und Gefühle in gereimter Form zu Papier bringen und zur Diskussion stellen können. Die Analyse von Stilmitteln und Interpretation gerade moderner Lyrik weckt dagegen nur selten Begeisterung.

Buchtipp:
Gedichte sind Bestandteil aller Lehrpläne im Fach Deutsch, von der Grundschule bis in die Oberstufe. Für die Vermittlung des Themas finden sich in den unterschiedlichen Unterrichtsmaterialien stimmige und altersgerechte Texte, Anregungen und Impulse zum selbst dichten, kompakte Lern-Hilfen sowie Anleitungen zur kreativen Umsetzung eines Gedichts z.B. als Grafic Novel oder als Film.
– Gedichte für die Grundschule https://www.klett.de/produkt/isbn/978-3-12-310500-5
– Deutsch kompetent 6 https://www.klett.de/produkt/isbn/978-3-12-316302-9
– Reisegedichte, Arbeitsheft, Klasse 11-13 https://www.klett.de/produkt/isbn/978-3-12-352611-4