Klett-Themendienst Nr. 118 (11/2023)

In Deutschland wird über gendergerechte Sprache diskutiert, häufig sehr heftig. Für die einen ist es Ausdruck der Gleichstellung von Frauen und Männern, für die anderen ist es Bevormundung oder sogar Sprachverhunzung. Wie das polarisierende Thema versachlicht und in den Deutsch-Unterricht eingebunden werden kann, erläutert der Sprachwissenschaftler Dr. Stefan Schäfer.

Die Entscheidung des Bildungsministeriums in Sachsen-Anhalt, das Gendern mit Sonderzeichen an Schulen zu verbieten, hat unterschiedliche Reaktionen ausgelöst. Was halten Sie von der Entscheidung?

Ich tendiere dazu, die Debatte darum als stärker politisch motiviert zu werten. Das Ministerium hat lediglich klargestellt, dass an den Schulen die Regeln der deutschen Rechtschreibung gelten und diese sehe Sonderzeichen wie Konstruktionen mit Doppelpunkt, Sternchen und Unterstrich nicht vor. Dass an Schulen die Regeln der deutschen Rechtschreibung gelten, ist eine Selbstverständlichkeit und bedarf nicht einer besonderen Betonung. Ich rate jedenfalls zu Versachlichung und Entspannung.

Stilistisch abwechslungsreich schreiben

Gendern bedeutet lediglich geschlechtergerechte Sprache. Mit dem geschlechterbewussten Sprachgebrauch soll die Gleichbehandlung aller Geschlechter/Identitäten zum Ausdruck gebracht werden. Was ist dagegen einzuwenden?

Gar nichts. Deshalb unterstütze ich es, wenn von Schülerinnen und Schülern, Lehrerinnen und Lehrern oder Sportlerinnen und Sportlern gesprochen und geschrieben wird. Diese Form der Ansprache von Mädchen und Jungen, Frauen und Männern darf auch an den Schulen in Sachsen-Anhalt weiter beibehalten werden. Ich bin unbedingt dafür, Frauen auch in der Sprache sichtbar zu machen. Persönlich ziehe ich es vor, stilistisch abwechslungsreich zu schreiben, anstatt mich an einem Schema abzuarbeiten. Deshalb schreibe ich in meinen Texten mal von Lehrern und mal von Lehrerinnen oder verwende eine geschlechtsneutrale Alternative wie „die Lehrenden“. Aber davon ganz abgesehen bewegen wir uns mit Ihrer Frage im Rahmen einer ur-feministischen Debatte, die von Luise F. Pusch, einer deutschen Sprachwissenschaftlerin, angetrieben worden ist. Sie gilt als eine der Begründerinnen der feministischen Linguistik in Deutschland.

… und sie hat die deutsche Sprache als eine Männersprache bezeichnet.

Nicht ganz zu Unrecht, wie ich meine. Luise Pusch hat u.a. damit argumentiert, dass die weiblichen Endungen von der männlichen Form abgeleitet werden. Also: Aus dem Lehrer wird erst die Lehrerin. Ganz anders im Englischen, da heißt es teacher. Dass Geschlecht wird erst sichtbar, wenn man entweder he (er) oder she (sie) dazu nimmt.

Genus und Sexus haben Schnittmengen

Die Kritikerinnen und Kritiker des Genderns argumentieren häufig mit der Unterscheidung von Genus und Sexus. Sie verweisen darauf, dass Genus und Sexus ungeeignet seien, um Geschlechtergerechtigkeit herzustellen. Trifft die Kritik den Punkt?

In der Tat haben Genus und Sexus insofern nichts miteinander zu tun, als sie prinzipiell voneinander unabhängig sind: Genus ist eine innersprachliche grammatische Kategorie, Sexus ein natürliches Geschlecht. Genus und Sexus, so argumentieren die – übrigens meist männlichen – Grammatiker, sind völlig unterschiedliche Kategorien. Das ist richtig. Aber, so erwidern viele Soziolinguistinnen, zwischen Genus und Sexus gibt es große Schnittmengen, und die gehen zu Lasten der Repräsentation der Frauen bzw. deren Anliegen im alltäglichen Sprachgebrauch. Und auch diese Argumentation ist richtig.

Für Schülerinnen und Schüler im Deutschunterricht nicht einfach zu durchschauen …

Vielleicht nicht einfach, aber höchst spannend. Ich animiere Lehrkräfte gerne dazu, ihre Schülerinnen und Schüler einfach einmal eine Umfrage auf der Straße machen zu lassen, konkret etwa zu der Frage: „Ist der Satz ‚Meine Mutter ist Lehrer‘ grammatikalisch richtig oder falsch? Die Lernenden nehmen dadurch die Rolle von Beobachtenden ein. Anhand der Antworten können die Schüler sehr schön erkennen, wie lebendig Sprache ist und wie sie sich entwickelt. Sie werden auf Menschen treffen, die den Satz korrekt finden und auf andere, die entgegnen: „Nein, es muss heißen ‚Meine Mutter ist Lehrerin‘“. Weitere Fragen könnten lauten: „Gendern Sie bzw. in welchen Kontexten legen Sie Wert auf gendergerechte Sprache?“ „Welche Schreib- und Bezeichnungsweisen (z.B. Lehrerinnen und Lehrer, LehrerInnen, Lehrer*innen, Lehrer_innen oder Lehrer/-innen) würden Sie bevorzugen?“

Sprache drückt Realität aus

Das heißt, das Thema Gendern könnte im Unterricht zum einen die Feinheiten der deutschen Sprache an einem aktuellen Beispiel vertiefen und zum anderen eine Diskussion darüber anregen, wie Sprache Wirklichkeit abbildet. Die Berufsbezeichnungen z. B. entstammen einer Zeit, als Frauen keinen Beruf erlernen und nicht studieren durften. Heute gibt es dagegen Bäckerinnen und Bäcker, Lehrerinnen und Lehrer etc.

Die Frage, wie Sprache Wirklichkeit abbildet, führt in den sprachphilosophischen Bereich. Hier kommt die Sapir-Whorf-Hypothese ins Spiel. Sie besagt, dass die Art und Weise, wie ein Mensch die Welt wahrnimmt, davon abhängt, welche Sprache er verwendet, um seine Realität auszudrücken. Nach dieser Hypothese beeinflusst Sprache Denkstrukturen und auch die Sicht auf die Welt. Das wäre ein wichtiges Argument pro Gendern.

Was würden Sie konkret empfehlen: Wie kann der Deutschunterricht angemessen mit dem Thema Gendern umgehen?

Aus meiner Sicht ist Gendern ein Impuls für spannenden Deutschunterricht. Es zeigt, dass Sprache immer in Bewegung bleibt. Das Thema vor allem als Anlass für eine Erörterung aufzugreifen – wie es häufig geschieht – halte ich für verschenkt. Im Unterricht selbst kann Gendern z. B. zum Anlass genommen werden, um sich mit den damit zusammenhängenden Sprachbereichen auseinanderzusetzen, damit beschäftigt sich übrigens auch der aktuelle Jugend-Podcast-Wettbewerb von Klett. Über Genus und Sexus haben wir bereits gesprochen. Es kann für Schülerinnen und Schüler zudem interessant sein, das Geheimnis des deutschen Genus zu lüften und herauszufinden, warum es z.B. das Messer, der Löffel und die Gabel heißt.

Das Gespräch führte Inge Michels

Kompakt
Lehrerinnen und Lehrer sollten die Debatte um das Gendern als Anlass für spannenden Deutschunterricht nutzen. Dazu möchte der Sprachwissenschaftler Dr. Stefan Schäfer animieren. Der ehemalige Lehrer arbeitet heute als Autor u.a. für den Klett-Verlag und regt dazu an, stilistisch abwechslungsreich zu schreiben, anstatt sich an einem Gender-Schema abzuarbeiten.

Buchtipp:
Bei der Premiere des Jugend-Podcast-Wettbewerbs von Ernst Klett Verlag und detektor.fm dreht sich alles um die geschlechtergerechte Sprache und wie sich die deutsche Sprache entwickelt. Bis zum 17. November 2024 können sich noch Teams der Klassen 10 bis 13 anmelden. Infos unter: http://www.klett.de/podcast-wettbewerb