In einer unübersichtlichen Welt brauchen Kinder etwas, woran sie sich festhalten können: Werte. Nun ist Ethikunterricht in Sachsen für alle Grundschüler Pflicht. Doch reicht eine Stunde aus, um dem Bedürfnis nach Orientierung gerecht zu werden?
Europäische Binnenwanderung, Flucht und Migration – das Leben wird komplizierter. Viele Fragen tauchen auf, die das Zusammenleben betreffen. Doch abgelenkt von einer Flut an widersprüchlichen Reizen und Informationen kommen viele Kinder viel zu selten dazu, Antworten auf wichtige Fragen zu finden. Dabei brauchen Kinder etwas, an das sie sich in dieser schnelllebigen und unübersichtlichen Welt festhalten können, zum Beispiel an Werten. Da Eltern nicht selten mit der Vermittlung von Werten an ihre Kinder überfordert sind, ist die Grundschule gefragt. Denn allzu oft erziehen Eltern ihre Kinder zu Egoisten, die sich selbst behaupten sollen. Oder sie erziehen gar nicht mehr, aus Angst, die freie Entwicklung ihres Kindes zu gefährden.
Trotz der Nachfrage nach Werten ist die frühe Förderung des ethischen Denkens in deutschen Bildungsinstitutionen nicht weit verbreitet. In der Primarstufe kommt ein Großteil der Schüler erst gar nicht mit ethischer Bildung in Berührung. In fast allen Bundesländern ist Ethik lediglich ein Wahlpflichtfach als Alternative zum schulischen Religionsunterricht. Sechs der insgesamt 16 Bundesländer bieten das Unterrichtsfach ab der ersten Klasse an, die anderen erst ab der Mittel- oder Oberstufe. In Sachsen, wo Ethikunterricht für alle Grundschüler verpflichtend ist, die nicht den Religionsunterricht besuchen, werden Werte immerhin eine Stunde pro Woche vermittelt.
“ Ziel ist, die Kinder zur Selbstreflexion zu bringen durch eine klare Orientierung an Werten, die am Grundgesetz ausgerichtet sind“, erläutert Daniela Hertel, Ethiklehrerin an einer Grundschule in Markkleeberg (bei Leipzig) und Autorin des Ethik-Lehrwerks „Wege finden“ des Klett- Verlages. Das funktioniere, indem der Bezug zur Lebenswelt der Kinder hergestellt werde und mit Hilfe von konkreten Beispielen oder kleinen Geschichten sämtliche Bereiche des Lebens hinterfragt würden; alles in kleinen Schritten, egal ob in der ersten oder in der vierten Klasse. „Nur wer sich seiner selbst bewusst ist, kann auch selbstbewusst handeln“, meint Sibylle Schönwald, Grundschullehrerin und Fachberaterin für Ethikunterricht an rund 20 Grundschulen in Leipzig.
Gemeinschaft beim Fragen erfahren
Frage – und Antwortrituale reichen heutzutage nicht mehr aus, um Kinder für Werte zu interessieren, die in einer multimedial vernetzten Welt aufwachsen. Es geht auch nicht wie beim Sachunterricht um die Sache an sich. „Im Ethikunterricht haben Kinder mehr Zeit, eine Sache oder ein Thema in Bezug zu ihrer eigenen Person zu setzten und die Werte, die dabei im Spiel sind“, so Hertel. Und sie haben Zeit, über ihre Stellung in der Gemeinschaft genauer nachzudenken: Beim Ethikunterricht in der Grundschule soll es nämlich zu einer „Dialoggemeinschaft“ kommen. Die Kinder erfahren den Dialog selbst als einen Wert, der notwendig ist, um in einer vielfältigen Gesellschaft respektvoll miteinander umzugehen. Voraussetzung, um respektvoll miteinander zu sprechen, sind laut Hertel Gesprächsregeln: zuhören, ausreden lassen, die eigene Meinung begründen, Argumente und Meinungen anderer Kinder stehen lassen können.
Um zum Beispiel zu ergründen, was Freundschaft ist, warum sie wertvoll ist, sollen die Kinder verschiedene Aussagen wie „Freunde haben kein Geheimnis“ oder „Freunde lernen voneinander“ in Kleingruppen ordnen und in Form einer Begriffspyramide zusammenfassen. Im nächsten Schritt werden die Begriffspyramiden der Kleingruppen ausgewertet und erneut zusammengefasst, sodass eine Klassenpyramide entsteht. Das erzählt Sibylle Schönwald. „Auch die Begründungen sind wichtig, oft finden die Schüler der unterschiedlichen Gruppen schnell Übereinstimmungen im Verständnis von Freundschaft und legen ihre Aussagen übereinander“, so Schönwald.
Aha-Effekte im Ethikunterricht
Seit 38 Jahren unterrichtet Sibylle Schönwald Ethik für Grundschulkinder. Das Thema Umwelt etwa gestaltet Schönwald als Entdeckungsreise. Anschauungsmaterial für „Wunder der Natur“ ist etwa eine Rose von Jericho. Die legt die Lehrerin mit einer Unterlage auf den Boden, gießt warmes Wasser drüber, worauf die Rose sich öffnet, grün wird und vor den Augen der staunenden Kinder aufrichtet. Dann erst fragt sie die Schüler, was sie beobachtet haben. „Ein Wunder!“ Wie hast du es empfunden? „Super, herrlich!“. Nach dem Überraschungseffekt klärt die Ethiklehrerin den Begriff des Wunders. Zeitgemäßer Ethikunterricht ist handlungsorientiert und packt laut Schönwald die Kinder schon in den ersten zwei Minuten. „Wir müssen die Kinder im Ethikunterricht immer emotional ansprechen“, pflichtet Daniela Hertel bei.
Für Viertklässler besonders interessant sei derzeit die Beschäftigung mit Wertvorstellungen von Religionen wie Judentum oder Islam. Doch die Krise im Nahen Osten und die Flüchtlingskrise in Europa haben den Umgang mit dem Thema nicht leichter gemacht. „So locker und neutral wie früher kann ich den Islam heute nicht mehr vermitteln“, sagt Daniela Hertel. Es werde im Unterricht mitunter „haarig“ über den Glauben diskutiert. Vor dem Hintergrund der radikalisierten Auslegungen des Korans bringt die Ethiklehrerin auch kritische Aspekte des Islam – und zeigt Parallelen zu den Religionskriegen zwischen Katholiken und Protestanten im 17. Jahrhundert auf. Es gibt also viel zu tun für die Ethiklehrer. Viel Zeit, Werte zu vermitteln haben sie indes nicht. „Letztlich kann der Ethikunterricht mit einer Wochenstunde nur an der Oberfläche kratzen“, so Daniela Hertel.
Buchtipp:
Wege finden
Neues Arbeitsmaterial für den Religions-Ersatzunterricht oder für Unterrichtseinheiten zum Sozialen Lernen für Klasse 1, ISBN: 978-3-12-007500-4.
Weitere Informationen unter: https://www.klett.de/lehrwerk/wege-finden-ausgabe-grundschule-ab-2017/einstieg