Lernen gelingt leichter durch gute Beziehungen zwischen Lehrenden und Lernenden. Doch ebenso wichtig sind positive Emotionen. Wie man sie weckt, verrät die Hamburger Coachin, Dozentin, Autorin und didaktische Beraterin des Ernst Klett Verlags, Dr. Christine Wieckenberg.
Wann lernen Schülerinnen und Schüler erfolgreich?
Die Bedeutung der Beziehung zu ihren Lehrkräften ist spätestens seit der Hattie-Studie unbestritten. Darüber hinaus aber wissen wir, dass Lernen erfolgreich wird, wenn es motivierend erfolgt, ja sogar Spaß und Freude bereitet. Lernen führt zu positiven Ergebnissen, wenn mehrere Sinne angesprochen werden. Womit wir bei der Neurodidaktik angekommen sind. Wenn positive Emotionen ins Spiel kommen, wenn das soziale Miteinander gelingt, wenn die Bedürfnisse des Individuums in den Blick genommen, die Lernumgebung motivierend und herausfordernd zugleich gestaltet wird, dann lerne ich gerne und gut. Mein Gehirn signalisiert mir sozusagen: Freie Fahrt für den Lernprozess.
Was passiert im Gehirn, wenn diese Faktoren gegeben sind?
Unser Gehirn reagiert, wird stimuliert und trainiert. Ich bin keine Neurowissenschaftlerin, sondern komme aus der Sprachwissenschaft und Schulpraxis. Aber mich interessiert, welchen Einfluss Bewegung, Sport und Achtsamkeits- und koordinative Übungen auf eine gute Lernsituation haben und welche Antworten uns die Neurowissenschaft dazu gibt. Vielleicht reicht für den Anfang, wenn wir unser Gehirn als einen Muskel verstehen, den wir durch Training verbessern können. Bildgebende Verfahren beweisen den positiven Einfluss körperlicher Aktivitäten auf unsere kognitiven Prozesse: Bewegung stimuliert Nervenzellen, fördert die Durchblutung, erhöht die Neubildung und Vernetzung von Nervenzellen, …. und das in jedem Alter. Ich finde es daher wichtig, dass wir im System Schule – und auch wir als Eltern – diese positive Wirkung auf das Lernvermögen, die Gedächtnisleistung, die Konzentration und das Verhalten, die Emotionen, Impulskontrolle, die geringere Ablenkungsgefahr… in allen Lernsituationen berücksichtigen.
Was kann das sein?
Ich benenne mal ein praxisnahes Beispiel: Multiple Choice-Aufgaben während der Unterrichtsroutine. Ich kann natürlich ein Handout mit z.B. vier Auswahlmöglichkeiten austeilen und die Kinder und Jugendlichen Kreuze machen lassen. Ich kann für die vier Antwortmöglichkeiten aber auch Bewegungen vereinbaren, die meine Auswahl symbolisieren: Hände an Nase und Ohr im Wechsel für A, im Rhythmus auf den Oberschenkel klopfen für B usw. Aber ich kann bei ganz kleinen Routinen ansetzen und mit dem Arbeitsblatt beginnen, dieses jedoch nicht selbst verteilen, sondern, die Schülerinnen und Schüler auffordern, es sich an vorher definierten verschiedenen Positionen im Raum selbstständig abzuholen. Ich kann auch Bewegungsecken oder haptische Tische im Klassenzimmer einrichten oder gemeinsam bewusst anders aktiv sein zwischendurch. Hier eine kurze Abwechslung, Stimulation, Pausenmöglichkeit und schon ist mein Gehirn wieder neu aktiviert und bereit, Stoff aufzunehmen. Das gelingt auch durch einen kurzen, musikalischen Impuls. Dann bewege ich nicht den Körper, aber den Geist und schicke ihn auf eine kleine Urlaubsreise.
Was ist Bewegung?
Bewegung bedeutet, dem Einzelnen etwas Gutes zu tun, ihm und seinem Gehirn, verschiedene Reize wie möglich zu bieten. Und manchmal reicht es auch, sich an einen ruhigen Ort zurückzuziehen, um „herunter zu kommen“, was im Schulalltag oft nicht gut gelingt. Ich erinnere mich gut an einen Gymnasiasten, der sich täglich in einen Schrank im Klassenzimmer setzte. Sie können sich vorstellen, was das zunächst auslöste. Erst nachdem intensiv darüber im Klassenkollegium und mit den Klassenkamerad:innen gesprochen wurde, akzeptierten wir alle, dass der Schüler seine Ruhe brauchte. Und so lernten einige Englisch und er, sich zu regulieren. Eine wichtige Erfahrung für sein gesamtes Leben und für uns in Bezug auf Respekt im Miteinander sowie gelebte Differenzierung und Individualisierung.
Ältere Schülerinnen und Schüler werden sich genauso freuen …
… weil sie diese Bedürfnisorientierung nicht gewohnt sind. Und damit erscheint sie für manche erst fremd. Wenn mir aber jemand in der Schule sagt, er oder sie wolle sich nicht bewegen, wolle schließlich lernen, dann frage ich zurück, ob sie zuhause auch manchmal schlafen oder spielen, ob sie auch essen oder wirklich die neurowissenschaftlichen Forschungsergebnisse nicht berücksichtigen mögen. 16 Stunden am Schreibtisch führen nicht zu erfolgreichem Lernen. Pausen benötigen wir alle. Mentale Pausen werden neben sportlichen Aktivitäten gemäß der Achtsamkeitsforschung immer wichtiger. Unser Gehirn darf zwischendurch immer wieder einmal anders stimuliert werden, egal ob es durch einen Geruchsreiz wie ein ätherisches Öl z.B. oder einfach eine fröhliche Stimmung geschieht.
Wie geht die Lehrkraft mit zweifelnden Jugendlichen um?
Ich bin mir der voraussichtlichen Reaktion gerade vieler Jungen in der 9. Jahrgangsstufe bewusst, wenn ich beispielsweise kurze Meditationen einführe. Aber alles Neue mag verwirren, überraschen, uncool wirken und kann durchaus auch Sorgen auslösen. Viele Lernende werden dann lachen, das Ganze sogar kurz für Quatsch halten. Dann stellt sich die Frage, ob ich die Situation als Lehrkraft aushalte, auch wenn ich selbst Lachtränen durch die zu erwarteten Reaktionen in den Augen habe, weil ich von meinem Tun, meinem neurodidaktischen Ansatz überzeugt bin. Wenn nicht, sollte ich dieses Szenario besser lassen und herausfinden, was gut zu mir – und dann zu meiner Lerngruppe – passt und damit anfangen.
Gibt es Erkenntnisse, wie es Schülerinnen und Schülern geht, wenn ihnen die Pausen ermöglicht werden?
Die Reaktionen auf meinen Ansatz zum Lernen sind extrem positiv. Die Schülerinnen, Schüler, aber auch meine Studierenden wissen sehr zu schätzen, dass an sie und ihre Bedürfnisse gedacht wird. Sie genießen es ungemein, dass die Lernatmosphäre ruhiger und abwechslungsreich wird. Studien wie auch meine empirischen Evaluationen zeigen, dass Unterricht, der diese Erkenntnisse umsetzt, zu besseren Noten führt, dass die Zahl der Störungen und negatives Verhalten im Allgemeinen zurückgehen und dass Kinder und Jugendliche fröhlicher, erfolgreicher, motivierter, sozialer, fokussierter und konzentrierter lernen. Und davon profitieren wir dann auch als Lehrende jeden Tag. Ist das nicht überzeugend?
Autor: Stefan Lüke
Kompakt
„neuro breaks“, also Pausen fürs Gehirn, wurden in der Lehrwerksreihe Green Line bewusst eingefügt und mit einem Symbol markiert. In der Lehrwerkskonzeption bedeutet das, dass auf Unterrichtsmethoden, die zu absichtlichen Positionswechseln führen und in Formulierungen von Aufgabenstellungen auf Bewegungsanreize geachtet wird. Im Lehrerhandbuch bietet Green Line zudem alternative Angebote, also Klassenraumorganisation mit und ohne Bewegungsanreiz. Beispiel: Die Lernenden tauschen sich in Partnerarbeit zu dem gelesenen Text aus oder werden für den Austausch auf einen „Lernspaziergang“ geschickt, gemäß der schulischen Regeln.
Buchtipp:
Die Englisch-Lehrwerksreihe Green Line setzt seit 2021 auf regelmäßige Impulse für das Bewegungslernen im Unterricht. Entsprechende Übungen in den Materialien sind mit einem Symbol gekennzeichnet. Das Repertoire reicht dabei von szenischen Übungen bis zu interaktiven Gruppenarbeiten.
http://www.klett.de/lehrwerk/green-line-bundesausgabe-ab-2021/einstieg