Klett-Themendienst Nr. 106 (05/2022)

Kinder sind oft beeindruckt von sakralen Orten, die sie im Religionsunterricht oder im nicht-konfessionellen Unterricht erkunden. Bei solchen Besuchen gibt es aus Expertensicht einiges zu beachten.

17 Mädchen und Jungen stehen vor der großen Tür der Celler St. Marienkirche. Zusammen mit ihrer Klassenlehrerin Mendy Lück wollen die SchülerInnen aus der gemischten 3. und 4. Klasse der Grundschule Hehlentor die mehr als 700 Jahre alte evangelische Stadtkirche erkunden – das größte Gotteshaus in Celle, dessen 75 Meter hoher Turm schon von weitem sichtbar ist. Die Gruppe, die von Lück zwei Stunden in der Woche in Religion unterrichtet wird, ist bunt zusammengesetzt, es gibt evangelische, katholische, muslimische, jesidische und konfessionslose Schüler:innen. Zwei muslimische Kinder sind vom Religionsunterricht befreit – auf ihren besonderen Wunsch hin nehmen sie aber an der Kirchenführung teil. Einige Kinder sind noch nie in einer Kirche gewesen, andere erinnern sich an ihre Einschulungsfeier in der Stadtkirche.

Die Kirchenpädagoginnen Heide Kremzow und Irene Strackholder empfangen die Gruppe draußen und gehen mit ihr ins Innere der barocken Kirche, die durch ihre zahlreichen Bilder und Verzierungen zu einer der größten Sehenswürdigkeiten in der niedersächsischen Fachwerkstadt gehört. „Setzt euch mal schweigend in die Bänke und schaut euch alles in Ruhe an“, lautet die erste Anweisung. Die Kinder blicken nach oben zu den imposanten Stuckarbeiten an der hohen Decke, sie zeigen mit dem Finger auf die zahlreichen Gemälde mit Darstellungen aus der Bibel an den Wänden, sie drehen die Köpfe und staunen über den riesigen Orgelprospekt. „Ist das richtiges Gold an der Orgel?“, will ein Junge wissen. „Auf diese Frage habe ich schon gewartet“, sagt Kremzow und erklärt den Unterschied zwischen Gold und Blattgold. Dann bekommen immer zwei Kinder einen kleinen Ziegelstein, der aus der Zeit der Errichtung der Stadtkirche stammt, mit der Aufforderung, den Stein an die Stelle zu legen, zu der sie eine Frage haben. Sie können sich in der ganzen Kirche frei bewegen, auch im Altarraum. In diese Richtung zieht es alle. Zwei Mädchen platzieren ihren Stein vor eine alte Holztür. „Dahinter befindet sich die Sakristei“, sagt Strackholder. Dieses Wort sagt den Kindern eben so wenig wie „Gruft“ – Strackholder erklärt die Begriffe.  

Dann geht es zum 400 Jahre alten Taufstein, an dem ebenfalls ein Stein abgelegt wurde. Kremzow erzählt, wie eine Taufe abläuft und warum überhaupt getauft wird. „Wenn man nicht als Baby getauft wurde, kann man sich dann noch später taufen lassen?“, fragt Theo und nimmt die positive Antwort interessiert zur Kenntnis. Als die Klasse zur hohen Kanzel mit den Abbildungen der Evangelisten kommt, weiß ein anderer Junge zu berichten: „Da steht ein Mann und spricht von oben zu den Menschen. Ich weiß aber nicht, wie der heißt.“ Strackholder klärt auf: „Du meinst den Pastor oder die Pastorin. Die Kanzel wurde früher benutzt, weil man dann die Worte akustisch besser verstehen konnte.“ Ein brennender Kerzenbaum im Seitenschiff zieht vor allem die Mädchen an. Wer möchte, kann eine Kerze anzünden und damit einen Wunsch oder einen Gedanken verbinden – eine Gelegenheit, die viele Kinder nutzen.

Zusammen betrachtet man das große Altarbild mit seinen vielen Jesusdarstellungen, vom letzten Abendmahl, von der Kreuzigung, von der Auferstehung. „War Jesus ein Mensch?“, will Maya wissen, die schon vorher öfter interessiert nachgefragt hatte. „Ja, Jesus war ein Mensch“, lautet die Antwort. „Wie kann er dann nach dem Tod auferstehen?“ Darüber könne man viel nachdenken und sich fragen, ob Jesus im Herzen seiner Jünger und vieler anderer Menschen oder tatsächlich weitergelebt habe. „Wir wollen nicht missionieren“, lautet der Grundsatz der beiden Kirchenpädagoginnen. Am Ende bedankt sich Kremzow bei der Klasse für ihre Aufmerksamkeit und Fragen und verabschiedet die Kinder mit einem Segen. „Ich habe nicht alles verstanden, was die Frauen uns erzählt haben“, sagt Dleva, die zuvor noch nie in einer Kirche war, und fügt hinzu: „Ich hatte mir eine Kirche ganz anders vorgestellt. Diese Kirche ist viel schöner als ich dachte. Die Bilder fand ich am schönsten.“ Andere Kinder sind beeindruckt von der Größe und Weite des Raumes und der besonderen Atmosphäre.

Lück freut sich, dass ihre Schüler:innen zwei Stunden so konzentriert bei der Sache waren: „Ich habe noch einmal gemerkt, wie wichtig so eine Erkundung vor Ort ist. Das ist für die Klasse ein tolles Erlebnis und viel anschaulicher, als wenn man in der Schule mit Arbeitsblättern das Thema behandelt.“ Die Klassenlehrerin hatte den Besuch in der Schule vorbereitet, sich mit den Kindern einen Film über die Stadtkirche (www.stadtkirche-celle.de/gemeinde/Video1) angeschaut und sie nach der Erkundung nach ihren Eindrücken gefragt. Die Erlebnisse spielen auch für den weiteren Unterricht eine Rolle, bei dem es derzeit um die Bedeutung von Ostern und Pfingsten geht.

Auch Julia Gerth befürwortet den Besuch sakraler Orte mit Schulklassen. Sie kennt die Begeisterung, wenn Kinder erstmals eine Orgel erklingen hören oder die Neugier, wenn sie einen Pfarrer befragen dürfen. „Neben Kirchen sind Friedhöfe wichtige Lernorte, aber auch Moscheen oder Synagogen“, sagt die einstige Grund-, Haupt- und Realschullehrerin, die heute als Studienleitung beim Religionspädagogischen Institut der Evangelischen Kirche von Kurhessen-Waldeck und der Evangelischen Kirche in Hessen und Nassau in Fritzlar arbeitet. Dabei komme es allerdings auf die Begleitumstände an. So könne man mit einer Klasse in einer Kirche durchaus beten. „Man sollte aber vorher darüber reden, was ein Gebet ist, es dann zum Ausprobieren anbieten und hinterher besprechen, wie sich das angefühlt hat und ob die Kinder damit etwas anfangen können“, sagt Gerth und fügt hinzu: „Schlecht wäre es, wenn man ohne es abzusprechen mit Kindern einfach in einen Gottesdienst geht oder ohne vorher zu fragen zusammen in der Kirche das Vater Unser sprechen will.“ Es gelte das Überwältigungsverbot.

In der kleinstädtisch geprägten Region rund um Fritzlar nehmen laut Gerth die meisten Kinder in der Grundschule am Religionsunterricht teil, auch wenn sie keiner christlichen Kirche angehören. Das sei in Großstädten ganz anders, wo häufig nur eine Minderheit den Religionsunterricht besucht. Wer daran teilnehme, solle lernen, religiöse Zeichen erkennen und deuten zu können. Doch Gerth geht es nicht nur um die Vermittlung von Wissen: „Es ist wichtig, dass Kinder spirituelle Erfahrungen machen.“

Autor: Joachim Göres

Kompakt
Viele Gemeinden bieten Erkundungen von Kirchen für Schulklassen an. Dabei haben die Kinder oft Gelegenheit, einen besonderen Raum in Ruhe kennenzulernen, ihre Fragen zu stellen und über die Bedeutung der religiösen Bilder und Symbole nachzudenken und zu reden. In den Bundesländern gibt es beim Fach Religion unterschiedliche Regelungen. So wird in Niedersachsen ab 2023 die Trennung in einen evangelischen und einen katholischen Religionsunterricht ganz aufgehoben. Einen gemeinsamen Unterricht gibt es bereits in Hessen, Rheinland-Pfalz und im Saarland. Das Fach Religion steht allen Schüler:innen unabhängig von ihrem Glauben offen. Als Alternativen bieten die meisten Bundesländer Fächer wie „Werte und Normen“ (Niedersachsen), „Ethik“ (Bayern), „Praktische Philosophie“ (Nordrhein-Westfalen) oder „Lebensgestaltung-Ethik-Religion“ (Brandenburg) an. Mit Ausnahme von Bremen, Berlin und Brandenburg ist Religion ordentliches Lehrfach – es gibt Noten, die für die Versetzung Bedeutung haben. In immer mehr Bundesländern gibt es zudem islamischen bzw. jüdischen Religionsunterricht.

Buchtipp:
Ab Schuljahr 2023/2024 können Grundschulen in Nordrhein-Westfalen neben dem konfessionellen Unterricht das Fach „Praktische Philosophie“ anbieten.
Mit dem neuen Lehrwerk „Wege finden“ (978-3-12-007437-3, ET: Juni 2022) lernen Kinder ab der 1. Klasse über Themen des Alltags zu philosophieren. So etwa über Freundschaft, Natur oder auch religiöse Häuser. Ergänzend gibt es gezielte Sonderseiten zur Sprachförderung und Medienkompetenz.
Weitere Informationen: https://www.klett.de/produkt/isbn/978-3-12-007437-3