Karten machen die Welt begreifbar, aber nie eins zu eins. Aktuelle Diskussionen um die Mercator-Projektionen auf Karten zeigen, dass Größenverhältnisse oder Perspektiven oftmals auch verzerrt sein können. Doch welche Projektionen kommen in modernen Atlanten zum Einsatz? Ein Gespräch mit Vanessa Ther, Historikerin und Gruppenleiterin Schulatlanten und Karten bei Klett über Maßstäbe, Weltbilder und die Bedeutung kartografischer Bildung im digitalen Zeitalter.

Frau Ther, in den Medien war zuletzt zu lesen, Schulatlanten zeigten eine „falsche Welt“. Was geht Ihnen durch den Kopf, wenn Sie so etwas hören?

Natürlich vereinfacht jede Karte die Realität. Sie reduziert komplexe geografische, gesellschaftliche und politische Zusammenhänge in ein übersichtliches Bild. Die aktuell oft kritisierte Mercator-Projektion wird und wurde in unseren Schulbüchern und Atlanten aber tatsächlich nie verwendet. Auch wenn man immer wieder liest, sie sei Standard im Schulunterricht. Das stimmt für die Ausrichtung am Null-Meridian, die man ebenfalls kritisieren kann, aber nicht für die Mercator-Projektion.

Wenn Schüler heute einen Atlas aufschlagen, was bekommen sie da tatsächlich zu sehen?

Der Ernst Klett Verlag verwendet in seinen Atlanten und Schulbüchern die Winkel-Tripel-Projektion nach Oswald Winkel. Diese Projektion wurde entwickelt, um Flächen- und Winkeltreue in einem angemessenen Verhältnis darzustellen. Sie ermöglicht eine didaktisch sinnvolle und ausgewogene Abbildung der Erdoberfläche, die Schüler:innen ein möglichst realitätsnahes Verständnis globaler Zusammenhänge vermittelt.

Klett-Weltkarte mit Winkel-Tripel-Projektion

Für die meisten Klett-Weltkarten wird die Winkel-Tripel-Projektion verwendet, welche einen Kompromiss aus Längen-, Flächen- und Winkeltreue darstellt.

Wir regen Schüler:innen aber auch dazu an, sich bewusst mit den Auswirkungen verschiedener Kartenprojektionen auseinanderzusetzen, um die Konstruiertheit von Karten zu reflektieren. Eine weitere Website, auf die wir gerne verweisen, ermöglicht sogar den direkten Vergleich von Kartenprojektionen und bietet eine gute Grundlage zur vertiefenden Auseinandersetzung mit dem Thema.

Warum wirken Weltkarten überhaupt „verzerrt“ und was steckt technisch dahinter?

Die Erde hat eine annähernd kugelförmige Oberfläche, eine Weltkarte dagegen ist flach. Daraus resultieren zwangsläufig Verzerrungen. Jede zweidimensionale Kartendarstellung muss mit Blick auf den Nutzungszweck einen Kompromiss zwischen Flächen-, Winkel- und Abstandstreue finden: Flächentreue bedeutet, dass Größenverhältnisse stimmen, Formen sich aber verändern. Winkeltreue stellt Richtungen richtig dar, jedoch werden Formen und Flächen nicht mehr im richtigen Verhältnis zueinander abgebildet. Und bei Abstandstreue stimmen Entfernungen nur entlang bestimmter Linien. Mathematisch ist es unmöglich, alle drei Eigenschaften gleichzeitig korrekt abzubilden. Das kann man auch ganz einfach selbst ausprobieren: Einfach Kontinente grob von einem Globus auf eine Orangenschale übertragen, die Orange schälen und dann versuchen, die Schale flach auf einen Tisch zu legen.

Wie entscheiden Sie als Verlag, welche Projektionen und Darstellungsformen in Schulatlanten verwendet werden?

Verschiedene Kartenprojektionen erfüllen unterschiedliche Zwecke. Die Mercator-Projektion wurde im 16. Jahrhundert für die Seefahrt entwickelt und dafür eignet sie sich bis heute, weil sie Richtungen korrekt wiedergibt und so die Navigation zuverlässiger machte.

Als Grundlage für didaktische Karten ist die Projektion dagegen eher ungeeignet und wird deshalb von Bildungsmedienverlagen üblicherweise nicht verwendet. Daher ist es überhaupt nicht förderlich, wenn dies in der Öffentlichkeit immer wieder behauptet wird. Flächentreue Projektionen sind ideal, um reale Größenverhältnisse von Ländern und Kontinenten zu vergleichen, verzerren aber Formen und erschweren damit oft die räumliche Orientierung. Kompromissprojektionen wie Winkel-Tripel bieten bei mäßiger Verzerrung einen ausgewogenen Gesamteindruck und werden deshalb vor allem in Schulatlanten und Lehrwerken eingesetzt.

Welche Kompetenzen lernen Schüler:innen beim Lesen einer Karte und warum ist das heute überhaupt noch wichtig?

Die Übersetzung von kartographischen Darstellungsformen fordert und fördert komplexes und vernetztes Denken: Kartenarbeit vermittelt eine Grundorientierung in der Welt und trainiert, Strukturen zu erkennen, Beziehungen zu deuten und die dargestellten Daten kritisch zu reflektieren. Diese Fähigkeiten sind auch in der lebensweltlichen Orientierung heute wichtiger denn je, obwohl – ich würde sogar sagen: gerade weil – Karten-Apps und Navigationssysteme uns die Alltagsorientierung so sehr vereinfachen.

Warum ist die Art, wie wir Welt in Karten darstellen, historisch und politisch bedeutsam?

Die Darstellung der Welt in Karten ist nie neutral, sondern spiegelt immer den Wissensstand, das Weltbild und auch die Machtverhältnisse der jeweiligen Zeit wider. Karten sind Ausdruck davon, wie Menschen ihre eigene Position in der Welt verstehen und welche Perspektiven sie betonen oder ausblenden.

So wurde in mittelalterlichen Karten, je nach Kulturkreis, das religiöse Zentrum der eigenen Welt in den Mittelpunkt gesetzt: In europäischen mappa mundi meist Jerusalem, in islamischen Karten, etwa bei al-Idrisi, Mekka. Diese Darstellungen machten das eigene Selbstverständnis buchstäblich zum „Mittelpunkt der Welt“, während den Kartographen unbekannte Regionen oft ausgelassen oder mit phantastischen oder religiösen Elementen gefüllt wurden.

Heute ist die Erde vollständig kartographisch erfasst und Karten sind wissenschaftlich präziser. Dennoch bleiben sie immer Interpretationen. Deshalb sollte im Unterricht thematisiert werden, wie eine Projektion wirkt: verkleinert sie z.B. den globalen Süden, führt sie eurozentrische Perspektiven fort und ist sie für den jeweiligen Nutzungskontext angemessen? Darüber hinaus kann der Einsatz alternativer Weltkarten, etwa einer gesüdeten Karte mit Australien im Zentrum oder einer an China statt am Nullmeridian ausgerichteten Darstellung, im Unterricht neue Perspektiven eröffnen und zur kritischen Reflexion anregen.

Welche anderen Aspekte beeinflussen unsere Wahrnehmung von Räumen?

Auch Raum- und Ortsbezeichnungen in Karten zeigen, dass Kartographie immer eine Frage der Perspektive ist. Der in Deutschland gebräuchliche Begriff „Naher Osten“ für den westasiatischen Raum könnte aus britischer oder norwegischer Sicht bereits für Mitteleuropa gelten. In den USA wiederum heißt dieselbe Region „Middle East“ – ein Ausdruck einer ganz anderen Weltsicht. Ebenso prägen unterschiedliche Ortsnamen wie „Ayers Rock“ oder „Uluru“, „Mt. McKinley“ oder „Denali“, „Kiew“ oder „Kyjiw“ unsere Wahrnehmung: Jede Benennung trägt kulturelle, politische oder historische Bedeutungen.

Frage an Sie als Historikerin: Welche Spuren kolonialer Weltbilder finden sich in Geschichtskarten und wie prägen sie unser Denken bis heute?

Bisher haben Geschichtskarten zu den Forschungs-, Handels- und Eroberungsreisen der Frühen Neuzeit oder dem Hochimperialismus indigene Perspektiven auf die Geschehnisse weitgehend ausgeblendet. Im Mittelpunkt standen typischerweise einzelne Seefahrer oder die durch Kolonialmächte kontrollierten Gebiete. Auch die Erläuterungen folgten lange dem eurozentrischen „Entdecker-Narrativ“.

Imperialismus Karte

Karte zum Imperialismus in Afrika aus dem Haack-Weltatlas

Die Geschichtskarten in der aktuellen Ausgabe des Haack Weltatlas dagegen bemühen sich um eine multiperspektivische Darstellung. In der Karte zur Frühen Neuzeit werden zum Beispiel auch indigene Gruppen in allen Weltregionen mit abgebildet. Mit derselben Intention zeigen diverse Karten zum Imperialismus in Afrika sowohl die vorkolonialen afrikanischen Reiche als auch die gewaltsamen Konflikte während und nach der Kolonialzeit, um zu verdeutlichen, dass die Europäer nicht in „unentdeckte Gebiete“ vordrangen und die Kolonialzeit von Krieg, Widerstand und Gewalt bis hin zum Genozid geprägt war. Eine Übersichtskarte wird nie alle Facetten eines komplexen historischen Prozesses abbilden können – sie kann und sollte aber durchaus multiperspektivischer sein, als es in der Vergangenheit oft üblich war.

Wie kann Kartographie Schülern helfen, Machtverhältnisse und historische Strukturen zu reflektieren?

Geschichtskarten visualisieren historische Entwicklungen, von Interessensgebieten und Kriegen über Grenzverschiebungen bis zu Handelsbeziehungen. So helfen sie Schüler:innen, geschichtliche Zusammenhänge räumlich einzuordnen und die Ursprünge heutiger Konflikte zu erkennen. Auch aktuelle Karten, etwa zu Rohstoffvorkommen, Wirtschaftsbeziehungen oder Konflikten, bieten wichtige Impulse, um bestehende Machtverhältnisse und globale Abhängigkeiten kritisch zu hinterfragen.

Welche Rolle spielen Karten künftig im Unterricht?

Karten bleiben unverzichtbare Werkzeuge im Unterricht. Sie fördern Orientierung, kritisches Denken und die Fähigkeit, komplexe geographische, politische und wirtschaftliche Zusammenhänge zu verstehen. In einer zunehmend globalisierten Welt sind diese Kompetenzen meiner Überzeugung nach wichtiger denn je.

Vielen Dank für das Gespräch!

 

Zur Person

Seit 2010 bringt die Historikerin Dr. Vanessa Ther ihre Expertise mit Leidenschaft in die Gestaltung verschiedener Bildungsmedien beim Ernst Klett Verlag ein. Seit 2022 leitet sie hier den Bereichs Atlas-Karten-Assets, zu dem auch der Haack-Weltatlas gehört.