Schluss mit zu viel Beliebigkeit. Das Land Baden-Württemberg hat einen Grammatikrahmen für das Fach Deutsch auf den Weg gebracht. Seit diesem Schuljahr müssen sich Lehrkräfte von der 1. bis zur 10. Klasse an diesem orientieren, Hilfen dazu finden sie auch in den Lehrwerksangeboten von Klett. Was das Besondere am Grammatikrahmen ist, erläutert der wissenschaftliche Leiter Prof. Dr. Jakob Ossner.
Warum gibt es den neuen Grammatikrahmen oder anders gefragt: Warum wurde er notwendig?
Ausgangspunkt für den Grammatikrahmen war der Rechtschreibrahmen 2018, mit dem die Ministerin Dr. Susanne Eisenmann der Fähigkeit insbesondere von Grundschulkindern, korrekt zu schreiben, besondere Beachtung schenken wollte. Dem vorausgegangen war eine Veröffentlichung des Instituts zur Qualitätsentwicklung im Bildungswesen IQB, in der Defizite in der Rechtschreibung in Grundschule und Mittelstufe beschrieben wurden. Aus dem Rechtschreibrahmen folgte als logische Konsequenz der Grammatikrahmen.
Standardisiert und konsistent
Was soll der Grammatikrahmen leisten?
Sehr wichtig war uns die nun verbindliche Standardisierung. Es sollte ein Rahmen entwickelt werden, in welchem sich die Lehrkräfte in ihrem Unterricht frei bewegen können, der aber nicht beliebig war sondern eine eindeutige Orientierung bot. Jetzt haben wir eine terminologisch und inhaltlich verlässliche Grundlage für alle Lehrkräfte von der 1. bis zur 10. Klasse. Das bedeutet zum Beispiel, dass die grammatische Begrifflichkeit für diejenigen Kinder, die von der Grundschule auf die weiterführenden Schulen gehen, nicht wechselt, sondern konsistent weitergeführt wird.
War das vorher nicht so?
Nein, bis zu dieser Standardisierung mussten Kinder bei den Übergängen von der Primar- in die Sekundarstufe oft mit einem Bruch im Deutschunterricht zurechtkommen, der zur Verwirrung führte und nicht ausreichend aufgelöst wurde. Das hat den Lernerfolg beeinträchtig. Nicht nur grammatisches Lernen, jegliches Lernen braucht eine konsistente Systematik, die es dem Lernenden ermöglicht, selbsttätig weiterzulernen. Nun verfügen die Lehrkräfte in Baden-Württemberg über einen Rahmen, der nach dem didaktischen Prinzip eines Spiralcurriculums angelegt ist.
Curriculum: spiralförmig statt linear
Was bedeutet das?
Ein Spiralcurriculum folgt der Devise, dass jedem Kind auf jeder Stufe seiner Entwicklung der Lernstoff entsprechend seines Lernstandes vermittelt werden kann. Es ist ein Prinzip zur Anordnung von Lerninhalten, die durch den amerikanischen Entwicklungs-Kognitionspsychologen Jerome Bruner
bekannt wurde. Der Stoff wird dabei nicht linear, sondern in Form einer Spirale angeordnet. Das heißt, dass im Laufe der Schuljahre einzelne Themen auf einem höheren Niveau und differenzierter wiederkehren. Der Grammatikrahmen berücksichtigt dadurch – ebenso wie der Rechtschreibrahmen – entwicklungs- und lernpsychologische Gesichtspunkte. Damit werden andere Ansprüche an die Lehrkräfte erhoben. Sie sollten nicht nur sehen, dass ein Schüler etwas falsch gemacht hat, sondern sollten verstehen, warum er dies so gemacht hat. Lehrkräfte sollten den Irrweg erkennen können und nicht nur korrigieren.
Bringen Lehrkräfte dieses Wissen nicht aus der Ausbildung mit?
Im Prinzip sollte das so sein. Hier wirkt jedoch erschwerend, dass die Ausbildung an den Hochschulen und im Referendariat in einem hohen Maße heterogen und damit kaum verbindlich ist. Das liegt auch an der schieren Unübersichtlichkeit des Bereichs Grammatik. Grammatik ist ja nach der Mathematik die zweitälteste Wissenschaft und bedient sich einer hochmetaphorischen Terminologie. Hinzu kommt, dass sowohl an der Hochschule als auch im Referendariat erschreckend wenig Zeit für eine Unterweisung in Grammatik veranschlagt wird. An der Hochschule taucht Grammatik meist nur im Rahmen der allgemeinen Einführung in die Linguistik zu Beginn des Studiums auf, und in der gesamten Praxisphase, so berichtete mir eine Ausbilderin, sei für Grammatik nur eine einzige Zeitstunde vorgesehen.
Fortbildungen stark nachgefragt
Demnach soll der Grammatikrahmen auch das Grammatikverständnis der Deutsch-Lehrkräfte schärfen, oder?
So ist es. Der verbindliche Grammatikrahmen nach dem Prinzip eines Spiralcurriculums dient in erster Linie der Unterstützung der Lehrkräfte. Sie sollen verstehen, dass es immer und zuallererst um Lesen und Schreiben geht. Grammatik ist ein Hilfsmittel, das man gewinnbringend einsetzen kann, wenn es darum geht, Texte sprachlich zu verstehen und angemessen zu schreiben. Anstatt sich darum zu bemühen, wird häufig nicht Grammatik unterrichtet, sondern es werden nur grammatische Termini gelernt, ohne dass diese im weiteren Unterricht relevant würden.
Brauchen Lehrkräfte eine spezifische Fortbildung, um den Grammatikrahmen anwenden zu können?
Ja, dafür wurden im Auftrag des Landes Fortbildungen konzipiert, die auch stark nachgefragt werden. Es geht ja nun darum, das Charakteristische des Rahmenplans zu durchdringen und anzuwenden. Ein Beispiel: Der Grammatikrahmen trennt analytisch in Wort, Wortgruppe und Satz. Dabei kommt es immer darauf an, unter welcher Perspektive etwas betrachtet wird. So weist der Grammatikrahmen explizit darauf hin, was es bedeutet, einen Satz als Informationseinheit bzw. als Struktureinheit anzusehen. Schon im Rechtschreibrahmen war gezeigt worden, was folgt, wenn man das Wort zur Grundlage der Laut-Buchstaben-Beziehung macht, und was, wenn es die Silbe ist. Zudem weist der Rahmen in der Sekundarstufe I drei Niveaus aus. Die den Niveaus zugeordneten Inhalte werden durch Beispiele veranschaulicht und durch Hinweise und Verfahren erläutert. Der Grammatikrahmen kommt deshalb nicht ohne intensive Fortbildung aus.
Perspektivwechsel oder: „Demokratie lebt vom Wort“
Ein Frage, die vielleicht etwas despektierlich klingt: Warum ist Grammatik eigentlich aus Ihrer Sicht so wichtig? Wie Sie gesagt haben, nimmt Grammatik in der Ausbildung der Lehrkräfte für das Fach Deutsch ja nur wenig Raum ein.
Guter Grammatikunterricht ist für mich ein Baustein für Demokratieerziehung, denn die Demokratie lebt vom Wort und nicht von der Faust. Ein in dieser Hinsicht kompetenter Schüler wählt nicht nur seine Worte, sondern auch den grammatikalischen Rahmen bewusst aus. Er weiß, warum er einen Satz auf diese Art und nicht auf eine andere Art sagt, er erkennt den Sinn in der Grammatik. Ändert er bewusst die Grammatik eines Satzes, ändert er – je nach Zusammenhang – auch Perspektive und Haltung. Ein Beispiel direkt aus dem Grammatikrahmen: Die Katze fängt die
Maus. Das ist aus der Täterperspektive gesprochen. Aber: Die Maus wird von der Katze gefangen. Das wäre aus der Perspektive des Opfers formuliert. Auf Perspektivwechsel hinzuwirken, ist übrigens ein hohes allgemeines Bildungsziel an allen Schulen. Deshalb ist das Erlernen des bewussten Umgangs mit der deutschen Grammatik aus meiner Sicht für alle Schulfächer bedeutungsvoll, sinnvoll und nützlich.
Geeignet für alle Bundesländer
Sollte der Grammatikrahmen auch in anderen Bundesländern verbindlich werden?
2020 hat die KMK nach 1982 ein neues „Verzeichnis grundlegender grammatischer Fachausdrücke“ erlassen. Der Grammatikrahmen ist mit diesem Verzeichnis vollständig kompatibel und zeigt, wie dieses Verzeichnis umgesetzt werden kann. Daher könnte er auch in anderen Bundesländern eingesetzt werden. Derartige Standardisierungen wären ein Segen für Schülerinnen und Schüler, die mobile Eltern haben.
Das Gespräch führte Inge Michels
Zur Person
Prof. Dr. Jakob Ossner ist Germanist, Sprachwissenschaftler und Sprachdidaktiker. Er beschäftigt sich u. a. mit Forschungen zur Sprachdidaktik, Grammatik und Sprachbewusstheit. Ossner lehrte an verschiedenen Pädagogischen Hochschulen sowie der Goethe-Universität Frankfurt am Main und war Mitglied des Rats für deutsche Rechtschreibung. Als wissenschaftlicher Leiter verantwortet er für Baden-Württemberg den Rechtschreibrahmen und den Grammatikrahmen.
Buchtipp:
Apposition, Partikel, Prädikativ: Zu den baden-württembergischen Lehrwerkmaterialien Deutsch der mittleren und gymnasialen Schulstufen stehen seit Schuljahr 2022/23 Arbeitsblätter zum Grammatikrahmen für die Klassen 5-10 zur Verfügung. Diese bieten hilfreiche Unterstützung im Unterrichtsalltag.
Blog-Beitrag im Deutsch-Magazin: https://deutsch-klett.de/verpflichtender-grammatikrahmen-in-baden-wuerttemberg/