Klett-Themendienst Nr. 105 (02/2022)

Mit dem „Kantharos“ liegt ein Traditionslehrwerk nun in einer Neuausgabe vor. Einer der Autoren war Raphael Michel. Er erzählt, warum ihm diese Arbeit ein Herzensanliegen war – und warum Altgriechisch weit mehr ist als einfach eine weitere Sprache. Diese Meinung teilt man im Ernst Klett Verlag.

Rund 10 000 Gymnasiast:innen lernen in Deutschland heute noch Altgriechisch. Raphael Michel, Griechischlehrer im Schwarzwald und Mitautor des neuen „Kantharos“, sagt mit einem Lächeln: „Aus meiner Sicht sind dies natürlich viel zu wenige.“ Und fügt an, dass das Fach jedoch in Baden-Württemberg einen vergleichsweise guten Stand habe – anders als etwa in der Schweiz, woher er stammt. Das war für den Basler einer der Gründe gewesen, sich jenseits der Grenze zu bewerben.

So kam er ins Kolleg der Jesuiten in St. Blasien. Die staatlich anerkannte, freie katholische Schule ist in einem ehemaligen Kloster untergebracht, dessen eindrückliche Kuppelkirche dem Pantheon in Rom nachempfunden ist. Im Herbst haben 11 von 85 Achtklässler:innen mit Griechisch angefangen. Und dies, obwohl es sich gegen eine vielfältige Auswahl behaupten musste, darunter Chinesisch. „Wir haben als Privatschule das Glück, das Fach auch unterrichten zu können, wenn sich weniger Jugendliche dafür entscheiden. Anderorts wird es häufig gar nicht angeboten, weil vermeintlich die Nachfrage fehlt – und es wird nicht nachgefragt, weil kein Angebot da ist. So beißt sich die Katze in den Schwanz.“

Sprache nicht so schwierig wie ihr Ruf

Was spricht aus Michels Sicht also dafür, Griechisch zu lernen, wenn es denn zur Auswahl steht? „Es ist sehr vielseitig. Kein reines Sprachfach, sondern ein Kulturfach – durch die Mythen, die Geschichte und die Philosophie. Ich sage immer, es ist eine Schule des Denkens. Die Jugendlichen beschäftigen sich mit grundlegenden Themen des Lebens, wie nebenbei und spielerisch. Sie lernen zu hinterfragen, sich eine Meinung zu bilden und zu argumentieren.“

Neben der Förderung von Allgemeinwissen und persönlicher Entwicklung ortet er einen weiteren Vorteil für Griechischlernende: „Das Deutsche ist gespickt mit griechischen Fremdwörtern. Diese müssen nicht auswendig gelernt werden, sondern erklären sich aufgrund der Etymologie. Das hilft bei vielen anderen Fächern in der Schule und oft später beim Studium. Und nicht zuletzt im Alltag.“

Aber ist diese Sprache – unter anderem durch das andere Alphabet – nicht sehr schwierig zu erlernen? Michel: „Dieser Ruf eilt dem Griechischen leider voraus – zu Unrecht, wie ich meine. Einfach ist es sicher nicht. Aber das Alphabet ist definitiv nicht das Problem. Spätestens nach zwei Wochen haben es alle raus. Und danach ist Griechisch eine ganz normal zu lernende Sprache.“

Ein eigenständiges Fach

Im Gespräch wird klar: Hier brennt jemand für die Sprache der alten Griechen. Michel bestätigt denn auch, dass er das Fach schon als Gymnasiast liebte, daneben Latein und Geschichte. So war es folgerichtig, diese Kombination zu studieren. Zuerst weniger mit der Idee, Lehrer zu werden – dann erwies sich dieser Beruf jedoch als die ideale Möglichkeit, die Begeisterung dafür zu leben und weiterzugeben.

Sind drei bzw. fünf Jahre genug, um mit den Schüler:innen zum Kern dieser Sprache durchzudringen? „Die ersten drei Jahre legen ein Fundament. Wer bis zum Abitur weitermacht, kann breiter lesen und bereits einen großen inhaltlichen Reichtum mitnehmen. Und sich an der Universität allenfalls spezialisieren.“

Positiv findet er, dass an seiner Schule in den letzten Jahren immer wieder Studierende ein Referendariat mit Griechisch absolviert haben. Sein Rat an Lehramtsanwärter:innen ist, es mit einem Fach aus einem anderen Bereich zu kombinieren, etwa Mathematik. „Früher galt Griechisch leider als Anhängsel von Latein. Das muss nicht sein, es geht durchaus eigenständig, zum Lehren wie zum Lernen.“

Fünf Jahre Autorenarbeit am Lehrwerk

Michel unterrichtete schon lange mit dem „Kantharos“, als er in einer Fortbildung erfuhr, dass dieses von ihm sehr geschätzte Klett-Lehrwerk überarbeitet wird. Er meldete bei den Herausgebern Dr. Martin Holtermann und Dr. Christian Utzinger sein Interesse an, als Autor mitzuwirken. Das führte zu fünf intensiven und lehrreichen Jahren Arbeit: zuerst am Lehrwerk, dann am Arbeitsheft und schließlich am grammatischen Beiheft. Ein solches fehlte bisher. Dass der Verlag diese Anregung von ihm aufgenommen hat, freut den Lehrer und Lehrmittelautor besonders. Teilweise hat er die entstehenden Materialien mit seinen Klassen erprobt. Und nun verwendet er im Unterricht natürlich die Neuausgabe. Wie kommt sie an? „Die Schülerinnen und Schüler erleben sie als zeitgemäßes, abwechslungsreiches und – durch die zahlreichen philosophischen Texte – tiefgründiges Lehrwerk.“

Viel Herzblut und Lebenszeit sei in den neuen „Kantharos“ geflossen, und es habe sich gelohnt: „Er bringt das Fach weiter.“ Jetzt genießt Michel wieder mehr Freizeit. Vielleicht wird er sie gelegentlich nutzen, um sich bei einem längeren Aufenthalt vor Ort das heutige Griechisch weiter anzueignen. Auch dafür bereitet die alte Sprache einen guten Boden.

Weiterhin Brücken zur Antike schlagen

Die erste Ausgabe des „Kantharos“ erschien 1992. Das Lehrwerk begleitete also schon viele beim Griechischlernen an Gymnasium oder Universität. Auch Melanie Sattler hat ihr Graecum damit gemacht. Nun koordinierte sie im Verlag in den letzten Jahren die Neuausgabe. „Der ‚Kantharos‘ brauchte einen neuen Anstrich, obwohl er immer noch im Einsatz und beliebt war. ‚Bewährtes wiederfinden – Neues entdecken‘ ist das Motto“, sagt die Redakteurin für Alte Sprachen. Neben einer neuen Optik mit ansprechendem Layout und mehr Bildern ist das Lehrwerk auf dem heutigen Stand der Didaktik. Die Grammatikprogression wurde optimiert, die Wortschatzarbeit intensiviert. Neu verfasste Sachinformationsseiten vermitteln den Hintergrund zu den Lektionstexten. Diese sind im neuen „Kantharos“ wie beim Vorgänger von hoher Qualität und möglichst nah am Original. Neue Sonderseiten behandeln Kunst und Architektur oder die Entwicklung von Sprache und Schrift bis hin zum Neugriechischen.  

Altgriechisch ist nur ein kleiner Bereich im Verlagsprogramm, mit niedrigen Auflagen. Sattler dazu: „Dem Ernst Klett Verlag ist es wichtig, das Fach weiterhin zu pflegen und zu fördern.“ Sie betont wie Michel, dass es sich um weit mehr als nur eine Sprache handle. Das Fach Altgriechisch diene der historischen Kommunikation, es schlage Brücken zur Antike. „Beim Lesen der antiken Texte lernen die Schülerinnen und Schüler verschiedene Kulturen und Wertesysteme kennen und setzen sie in Bezug zu ihrer eigenen Lebenswelt. Sie beschäftigen sich mit existenziellen Fragen der Menschheit. Die sind heute nicht weniger spannend als damals. All das macht Altgriechisch zu einem Fach, wie es lebendiger nicht sein könnte.“

Autorin: Theresia Schneider

Kompakt
Studierende und Lernende an Schulen, die Altgriechisch belegen, lernen mehr als eine weitere Sprache. Durch die Mythen, die Geschichte und die Philosophie werden sie an verschiedene Kulturen und Wertesysteme herangeführt und verstehen so die eigene Lebenswelt besser. Der Ernst Klett Verlag pflegt und fördert deshalb das Fach weiterhin. Das freut engagierte Lehrkräfte des Griechischen wie Raphael Michel: Er wirkte als Autor am neuen „Kantharos“ mit. Dieses 1992 erstmals erschienene Lehrwerk wurde unter dem Motto „Bewährtes wiederfinden – Neues entdecken“ überarbeitet – nun liegen alle Teile vor.

Zur Person
Der gebürtige Schweizer Raphael A. Michel lebt im Südschwarzwald, wo er seit 16 Jahren am Kolleg der Jesuiten in St. Blasien unterrichtet – neben Griechisch auch Latein, Geschichte und Politik. Bei der ab 2018 erschienenen und 2021 abgeschlossenen Neuausgabe des Lehrwerks „Kantharos“ war er Teil eines Teams von sieben Autorinnen und Autoren.

Buchtipp:
Der neue „Kantharos“ enthält originale bzw. sehr nahe an das Original angelehnte Texte. Dabei wurde auf eine ausgewogene Auswahl aus den Bereichen Mythos, Philosophie, Geschichte, Fabel, Roman, Neues Testament und Alltag geachtet. Für den Unterricht an Schulen als 3. oder 4. Fremdsprache und für Graecumskurse an Universitäten.