Klett-Themendienst Nr. 122 (05/2024)

Demokratiebildung in der Schule bedeutet, kontroverse Themen kontrovers zu behandeln und dabei auch deutlich für Grund- und Menschenrechte Stellung zu beziehen. Die Begeisterung für das demokratische System muss dabei von allen Lehrkräften glaubhaft vorgelebt und erfahrbar gemacht werden, so ein Bildungsexperte.

„An unserer Schule war ein Workshop zur sexuellen Vielfalt geplant. Eltern haben dagegen protestiert und das als aufgezwungenes Angebot bezeichnet. Wie sollte man damit umgehen?“ Auf einer Tagung von Pädagogen stellt Jeremias aus der 12. Jahrgangsstufe eines Gymnasiums in Osnabrück diese Frage während einer Diskussion zum Thema „Wie viel Toleranz und Vielfalt braucht der Frieden?“. Die Antworten sind eindeutig. „Bestimmte Eltern versuchen Positionen zu unterdrücken, die sie ablehnen. Man sollte mit ihnen den Dialog suchen, sich aber nicht einschüchtern lassen. Bei queeren Jugendlichen gibt es hohe Suizidzahlen, deswegen muss man für sie Freiräume an Schulen schaffen“, sagt Wiebke Eltze, Bildungsreferentin bei der Amadeu Antonio Stiftung. „Man muss mit Eltern ins Gespräch kommen und ihnen zeigen, welche Aufgabe Schule hat“, ergänzt die Mediatorin Melanie Stamer, die an Hamburger Schulen Projekte zur Friedensbildung durchführt.

Welche Aufgabe hat Schule, gerade wenn es um kontroverse Themen geht?

Für Steve Kenner, Professor für Politikwissenschaft und ihre Didaktik an der Pädagogischen Hochschule Weingarten, ist die Antwort klar: „Kontroverse Positionen müssen im Unterricht kontrovers dargestellt werden, aber nicht zwingend als gleichwertig.“ Das bedeute zum Beispiel, dass die Position der wenigen Klimawandel-Skeptiker in Bezug auf den vom Menschen beeinflussten Treibhauseffekt nicht gleichgesetzt wird mit der auf wissenschaftlicher Evidenz basierenden Position der großen Mehrheit der Fachwissenschaft.

Kenner ist Mitinitiator des aktuellen Papiers „Demokratie braucht politische Bildung, keine Neutralität“ der Deutschen Vereinigung für politische Bildung (DVPB). Darin betont die Vereinigung der Politiklehrkräfte, dass es in der Schule nicht nur um die Vermittlung von Kenntnissen gehe, sondern darum, „Grund- und Menschenrechte sowie die demokratische Auseinandersetzung erfahrbar zu machen“, damit junge Menschen an der Demokratie mitwirken können. Dabei gelte es laut Kenner, deutlich Stellung zu beziehen. „Immer häufiger kommen Lehrkräfte oder auch Schülerinnen und Schüler auf uns zu, die sich gegen Rassismus, Homophobie, Menschen- und Demokratiefeindlichkeit engagieren. Viele Schulen setzen bereits ein klares Zeichen. Nicht selten fehlt es allerdings an Rückhalt für engagierte Demokratinnen und Demokraten.“ Dies werde unter anderem mit dem angeblichen Neutralitätsgebot begründet.

„Der demokratische Bildungsauftrag, der in den meisten Bundesländern Verfassungsrang hat, fordert dazu auf, sich für die Grundwerte unserer Gesellschaft einzusetzen. Ein allgemeines politisches Neutralitätsgebot lässt sich weder aus dem Bildungsauftrag der Landesverfassungen, noch den Schulgesetzen oder dem Beamtenrecht begründen“, heißt es in der DVPB-Stellungnahme.

Engagement aller Lehrkräfte für Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und Menschenrechte

Angesichts bevorstehender Wahlen müsse der Politikunterricht die Partei- und Wahlprogramme kritisch unter die Lupe nehmen und dabei aktuelle Äußerungen von Politikern hinterfragen. Kenner: „Wenn Politikerinnen und Politiker sich rassistisch, antisemitisch, homophob oder in einer anderen Weise demokratie- oder menschenverachtend äußern, muss dies in der Schule aufgegriffen und klar Position bezogen werden. Kürzlich hat ein Kreisverband der AfD gegen eine Geflüchtetenunterkunft mobil gemacht und in einem Flyer von einem ‚millionenfachen Bevölkerungsaustausch‘ schwadroniert. Das ist ein völkisch-nationalistisches Verschwörungsnarrativ, das Menschen verachtet und die Demokratie gefährdet. Als solches muss es auch im Unterricht benannt und besprochen werden.“

Dafür müsse das Fach Politik besser gefördert werden. „Politische Bildung sollte deutlich früher beginnen und mit mehr Wochenstunden ausgestattet werden. Sonst bleibt oft zu wenig Zeit, um all die relevanten Themen in Zeiten multipler Krisen anzugehen“, sagt Kenner. Er wünscht sich das Engagement aller Lehrkräfte für Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und Menschenrechte: „Im Sinne einer Demokratiebildung als Querschnittsaufgabe müssen sich alle Lehrkräfte positionieren.“

Demokratiebildung im Unterricht

Bildungsmedien, wie das Lehrwerk „Projekt G“ von Klett (2024, Baden-Württemberg), betrachten gesellschaftspolitische Prozesse aus verschiedenen Blickwinkeln und schaffen mit schülernahen Beispielen einen echten Lebensweltbezug für eine fundierte Demokratiebildung.

Auch Lorenz Steinert, Gruppenleiter Gesellschaftslehre, Geschichte, Geographie und Politik beim Ernst Klett Verlag in Leipzig, weist auf die Bedeutung der gesamten Schule bei der Demokratiebildung hin. Das beginne mit der Wahl von Klassensprechern und dem Ernstnehmen der Schülervertreter in schulischen Gremien. Die Begeisterung für das demokratische System müsse von Lehrkräften glaubhaft vorgelebt und erfahrbar gemacht werden. Im Unterricht bieten sich Simulationen und Rollenspiele an, um aus unterschiedlichen Perspektiven Probleme zu bearbeiten und gemeinsam nach Lösungen zu suchen. Steinert: „Recht geläufig ist das Inselspiel, bei dem die Schülerinnen und Schüler sich in die Situation versetzen sollen, als Gruppe auf einer einsamen Insel gefangen zu sein. Ihre Aufgabe ist es, ihr Zusammenleben und die Arbeitsteilung zu organisieren. Bei dieser Situation erfahren sie die Grundzüge politischer Arbeit und idealerweise auch demokratischer Strukturen.“

Melanie Jacobi unterrichtet Religion an einer Integrierten Gesamtschule in Osnabrück. Dort hat sie ein Projekt zum Ukraine-Krieg geleitet, bei dem mehr als 200 Schülerinnen und Schüler Friedensbotschaften aufgeschrieben haben, die in einem Buch veröffentlicht wurden. Dabei haben zum Beispiel syrische Kinder über ihre Fluchterlebnisse berichtet. Ukrainische als auch russische Schüler haben sich an der Aktion beteiligt. „Ich habe nichts korrigiert, es gab keine problematischen Äußerungen. Der Wunsch nach Frieden als Abwesenheit von Krieg ist der kleinste gemeinsame Nenner, das wollen alle“, sagt Jacobi und fügt hinzu: „Wir haben allerdings keine politische Diskussion geführt.“ Sie ermutigt Lehrkräfte dazu, aktuelle Themen von sich aus anzusprechen. „Der Krieg in der Ukraine bewegt viele Kinder und Jugendliche, darauf muss man eingehen. Dabei kann man seine eigene Ohnmacht zeigen. Ich bin ehrlich und sage, dass ich nicht auf alles eine Antwort habe.“

Nach der aktuellen Sinus-Jugendstudie der Krankenkasse Barmer nennen 53 Prozent der befragten 14- bis 17-Jährigen Kriege als Hauptsorge, gefolgt von Klimawandel (47 Prozent) und Umweltverschmutzung (46 Prozent).

Text: Joachim Göres