Klett-Themendienst Nr. 75 (05/2017)

Kaum ein Schüler ist noch in der Lage, fehlerfrei zu schreiben. Auf der Schwelle von der Schule zum Beruf kann sich das rächen. Rechtschreib-Experte Manfred Maier über die laxe Haltung gegenüber Rechtschreibfehlern und wie Rechtschreibung unseren Ruf im Job schützen kann.

„Er drückte mir das Messer an die Kelle.“ Solche Rechtschreibfehler kommen heute inzwischen häufig vor. Was sind Ihrer Einschätzung nach die wichtigsten Gründe für die Probleme von Schülern mit der Rechtschreibung?
Dass jemand „Kelle“ statt „Kehle“ schreibt, kann viele Gründe haben. Ein Berufsschüler, der etwa Maurer lernt, ist mit dem Wort „Kelle“ vertraut und schreibt das auch so, weil er gar nicht lange überlegt. Ein Schüler mit Migrationshintergrund kann möglicherweise Dehnungen und Schärfen nicht unterscheiden, weil das in seiner Sprache nicht vorkommt. In der deutschen Rechtschreibung macht es aber einen Unterschied, ob eine Silbe kurz oder lang ausgesprochen wird. Beim Satz „Er drückte mir das Messer an die Kelle“ würde es schon ausreichen, wenn sich der Schüler den Satz laut vorläse.

„Kinder müssen wieder den Klang der Sprache hören, damit sie korrekt schreiben lernen“

Sind solche Probleme eher hausgemacht oder der Schule zuzurechnen?
Das Vorlesen innerhalb und außerhalb der Schule wird kaum noch geübt. Das ist eine Tendenz, die sich in Zukunft verstärken wird. Man kann es jetzt oft bei Fahrten in Bussen und Bahnen beobachten. Vor 30 Jahren hat man sich noch geärgert, wenn Großeltern oder Eltern einem Kind stundenlang etwas vorgelesen haben, um es zu beschäftigen. Das gibt es heute nicht mehr – von zehn Kindern wird vielleicht einem Kind noch vorgelesen. Ich habe eine Frau in der Straßenbahn beobachtet, die 40 Minuten kein Wort mit ihrem Kind geredet hat. Dafür tippte sie ständig auf ihrem Smartphone herum. Das Kind hat die Aufmerksamkeit der Mutter gesucht. Doch die hat kein Wort mit ihm geredet. Das ist kein Einzelfall. Viele Eltern sprechen kaum noch mit ihren Kindern. Dabei ist es wichtig, dass Kinder den Klang der Sprache hören, Dehnungen und Kürzen unterscheiden lernen. Das geschieht vor allem beim Vorlesen.

Wie wirken sich häppchenweise aufbereitete Texte fürs Internet auf Rechtschreibung, Ausdruck und Stil aus?
Aktuelle Studien aus dem Jahr 2016 besagen: Wir lesen heute viel flüchtiger als früher. Wir lesen Texte nicht mehr zu Ende, Passagen, die wir als langweilig empfinden, überspringen wir. Wir scannen nur noch. Die digitalen Medien unterstützen diese Entwicklung. Die Verweildauer bei einem Artikel im Internet entspricht in etwa der Dauer, die ein Lehrer auf die Antwort eines Schülers wartet: drei Sekunden. Das ist wissenschaftlich belegt – und wird durch meine Erfahrungen bestätigt.
Wenn man nun heute im Unterricht einen Text durchnimmt, der länger als eine Seite ist, braucht man gar nicht zu hoffen, dass Schüler die zweite Seite lesen. Wer nur noch sprunghaft liest, kann weder die Rechtschreibung noch den Ausdruck oder Stil eines Textes erfassen. Auf diese Weise verflüchtigen sich nicht nur Rechtschreibung, Zeichensetzung und Ausdruck. Auch die akzentuierte Rede leidet darunter.

Früher haben sich Schüler für ihre mangelnde Rechtschreibung geschämt

Wenn Sie auf Ihre jahrzehntelange Erfahrung als Lehrer zurückschauen. Welche Erfahrung mit der Rechtschreibung haben Sie als Berufsschullehrer gesammelt? Welchen Unterschied erkennen Sie zwischen Schülern, die Sie vor 30 Jahren unterrichtet und denen, die Sie zuletzt unterrichtet haben?
Die Schülerinnen und Schüler hatten früher eine andere Mentalität. Früher haben sich Schüler noch geschämt, wenn sie eine Klassenarbeit von mir zurückbekommen haben, in der dreißig Rechtschreib- und Zeichensetzungsfehler waren. Gebe ich heute eine Arbeit zurück, in der sehr viel rot unterstrichen ist, dann stelle ich mich auf Kommentare ein wie: „Sie spinnen wohl, mir das Blatt so voll zu sudeln, Rechtschreibung hat bei mir früher nie gegolten.“ Dahinter steckt die Konsumenten-Haltung, ich brauche mich nicht anzustrengen, man wird mich schon irgendwie verstehen.
Dabei ist den Schülerinnen und Schülern nicht bewusst, dass sie nicht für mich möglichst fehlerfrei schreiben sollen, sondern für ihr berufliches Leben. Denn wer die Rechtschreibung beherrscht, kann seinen Ruf besser verteidigen und sich bei anderen Menschen Respekt verschaffen. Ein Handwerksmeister wird auch deswegen respektiert, weil er anständig schreiben kann. Ist hingegen alles, was er schriftlich mitteilt, fehlerhaft, nehmen ihn die Auszubildenden doch gar nicht ernst. Wer korrekt schreibt, signalisiert zudem: Der andere Mensch ist es mir wert, dass ich mich anstrenge, ordentlich zu schreiben. Mit meiner Rechtschreibung erweise ich ihm meine Wertschätzung.

Sollten wir im Deutschunterricht also zu alten Tugenden wie Drill und Disziplin zurückkehren?
Drill hört sich furchtbar an – jeder Lehrer würde die Hände über dem Kopf zusammenschlagen. Aber was mir heutzutage beim Deutschunterricht tatsächlich fehlt, ist Übung. In den Lehrplänen steht alles Mögliche, was man in der Schule lernen soll, aber nirgendwo taucht der Begriff „Übung“ auf. Viele Lehrer fokussieren sich auf das Endergebnis des Unterrichts und nehmen sich kaum noch Zeit zum Üben.

Vorlesen, wiederholen, üben

Was würden Sie tun, wenn Sie Bildungsminister wären, um den Mängeln entgegenzuwirken?
Zu unseren heutigen kompetenzorientierten Lehrplänen gehört mehr Übung. Ich würde in die Lehrpläne „Üben“, „Wiederholen“ und „Vorlesen“ schreiben. Für mich wäre wesentlich, dass es mehr Zeit zum Üben gibt und dies unmissverständlich klargemacht wird. Auch Zeit für Wiederholungen müsste im Lehrplan eigens ausgewiesen werden. Und es sollte allen bewusst sein, dass zum Lesen auch das Vortragen von Texten gehört. Wer etwas vorträgt, kommt nicht umhin, akzentuiert zu reden, Längen und Kürzen in Wörtern hervorzuheben.
Wenn es etwa Aufgabe ist, ein Protokoll zu schreiben, dann lässt sich die Aufgabe in zwei Schulstunden einführen, aber das Protokollschreiben müsste fünf Stunden lang geübt werden. Das Üben des Protokollschreibens müsste dementsprechend auch in den Lehrplänen stehen.
Werfen Sie einmal einen Blick in die Bundesliga. Alle Bundesliga-Kicker können Fußball spielen. Aber was machen sie die ganze Zeit über? Sie üben die ganze Woche, damit sie uns am Wochenende anderthalb Stunden zeigen können, was sie können. Genau das müsste in der Schule erfolgen. Für die Dauer von anderthalb Stunden, in denen etwas demonstriert wird, muss man mitunter fünf Tage in der Woche üben. In der Schule wird derzeit eher für die Show gelernt – hinterher stellt man fest, die Schüler sind gar nicht so gut, wie gedacht.

Autor: Arnd Zickgraf

Manfred Maier arbeitet als Autor und Herausgeber für den Ernst Klett Verlag. Er unterrichtete als Lehrer an einer gewerblichen Schule in Stuttgart und war in der Lehrerfortbildung tätig.

Buchtipp:
schreib.korrekt, Rechtschreibung und Zeichensetzung mit Grammatik, Ausdruck und Stil
Arbeitsheft für die Ausbildungs- und Berufsvorbereitung, Umfang: 80 Seiten
ISBN: 978-3-12-803809-4