Klett-Themendienst Nr. 117 (10/2023)

Schulchöre profitieren davon, dass Singen heute bei vielen Kindern und Jugendlichen als cool gilt. Für die Schüler:innen ist der Chor aus ganz unterschiedlichen Gründen wichtig.

Generalprobe des Hauptchores des evangelischen Gymnasiums Andreanum in Hildesheim. Musiklehrerin Gesine Frank dirigiert knapp 120 Schülerinnen und Schüler der Klassen 9 bis 13. „Mehr Alt!“, ruft Frank laut und blickt zu den tiefen Frauenstimmen bei „Slipping Through My Fingers“. Weitere acht Stücke zählen zum Programm des Hauptchores, das am Abend beim Sommerkonzert in der Turnhalle den 1000 Besuchern geboten wird. Nicht nur um die richtige Stimmlage und Lautstärke geht es bei der letzten Probe. „Wenn ihr gerührt seid: Nicht den Kopf zur Seite drehen. Das machen einige von euch“, kritisiert Frank bei einem anderen Lied. Auch das zügige Auf- und Abtreten wird geübt – schließlich wollen beim Sommerkonzert auch noch die Chöre der Unter- und Mittelstufe sowie mehrere Musikgruppen und Orchester des Andreanums ihr Können zeigen. Insgesamt lobt Frank viel – es gibt wenige Fehler, denn kurz nach Pfingsten haben die Sänger:innen an drei „Musikintensivtagen“ in einer Jugendherberge im Harz die Stücke immer wieder eingeübt.

„Das waren acht bis zehn Stunden Probe am Tag“, berichten die Abiturienten Lasse Clausen und Nosipko Radebe, die sowohl im Hauptchor singen als auch im Hauptorchester spielen. „Vor so einem Konzert bin ich extrem aufgeregt. Wenn dann der erste Ton erklingt, ist die Aufregung weg. Man guckt in nette Gesichter, das gibt mir ein superschönes Gefühl“, sagt Radebe. Sie lobt die Auswahl der Stücke, eine Mischung aus alten Liedern wie „Herzlieb zu dir allein“ aus dem 15. Jahrhundert bis hin zu modernen Titeln wie „Shut Up And Dance“. Frank, die Musik und Geschichte unterrichtet, betont: „Auch Vorschläge der Schülerinnen und Schüler werden berücksichtigt, wobei gerade ‚Shut Up And Dance‘ auf gemischte Reaktionen traf. Manchmal ist es einfacher, sich auf traditionelle Lieder zu einigen.“

Dazu gehört auch „Hine mah tov“, ein jüdisches Lied nach Psalm 133,1. „Geistliche Lieder spielen bei unserem Adventskonzert eine größere Rolle“, sagt Lorenz Heimbrecht. Der Musik- und Religionslehrer leitet den Chor der Klassen 5/6 mit derzeit zwölf Mädchen. „Wenn die vor 1000 Besuchern stehen, sind sie erstmal ganz schön erschrocken. Doch wenn dann begeistert geklatscht wird, freuen sie sich umso mehr. Sie wachsen daran“, betont Heimbrecht. Jungen zieht es in diesem Alter nach seinen Worten eher in andere Arbeitsgemeinschaften wie Robotik oder Schach. „Insgesamt muss man aber sagen, dass das Singen heute populärer ist, auch durch Serien wie ‚Deutschland sucht den Superstar‘. Vor mehr als 20 Jahren galt Singen bei vielen Schülern als uncool“, sagt Heimbrecht. Frank weist auf einen anderen Aspekt hin: „Früher hatten wir mehr Schüler mit Kantorei-Erfahrung und konnten so auch anspruchsvollere Stücke angehen. Heute gibt es mehr unerfahrene Sänger.“

Das 1225 gegründete Andreanum bietet Musikklassen mit zusätzlichen Musikstunden an – für nicht wenige Eltern ein Grund, ihre Kinder an diesem Gymnasium anzumelden. Bedingung ist in der Regel, dass sie schon ein Instrument spielen. Die meisten Chorsänger:innen kommen aus diesen Musikklassen. „Der Chor ist für uns keine Pflicht, sondern wir haben einfach Lust zu singen. Man lernt da neue Leute aus anderen Klassen kennen und kann sich dabei nach einem vollen Unterrichtstag gut entspannen“, finden Emily Reichert und Henriette Fritz aus der 8. Klasse.

Von Bedingungen wie am Andreanum kann Franziska Rautenberg nur träumen. Die stellvertretende Leiterin der Nordmarkt-Grundschule Dortmund berichtet, dass die 430 Mädchen und Jungen an ihrer Schule wöchentlich ein bis zwei Stunden Musikunterricht haben. Um die fehlenden Fachlehrkräfte auszugleichen – bundesweit werden an den Grundschulen nur 42 Prozent von ausgebildeten Musiklehrer:innen erteilt – , gibt es in Nordrhein-Westfalen eine Kooperation mit örtlichen Musikschulen im Rahmen von Jekits. Diese Buchstaben stehen für „Jedem Kind Instrumente, Tanzen, Singen“. Die an dem Programm teilnehmenden 1000 Grundschulen entscheiden sich für einen dieser drei Schwerpunkte – an der Nordmarkt-Grundschule steht das Singen im Vordergrund. Jede Klasse hat pro Woche eine Stunde durch eine Musikschul-Lehrkraft. Die leitet an der Nordmarkt-Grundschule auch den Schulchor, dem 25 Mädchen und Jungen aus den Klassen 3 und 4 angehören „Diese Zusammenarbeit mit den Musikschulen ist sehr wichtig“, betont Rautenberg, die Vorsitzende der Chorjugend in NRW ist.
An ihrer Schule haben 97 Prozent der Kinder einen Migrationshintergrund – das verleiht dem Singen im Unterricht und im Chor eine besondere Bedeutung. „Das Singen ist gut fürs Miteinander, fürs Selbstbewusstsein und auch für unsere Kontakte zu Eltern, die man sonst schwer erreicht, die aber gerne zu Auftritten ihrer Kinder kommen“, sagt Rautenberg, bei deren Schüler:innen Lieder wie „Bruder Jakob“ oder die „Pommesbuden-Polonaise“ besonders beliebt sind und die sich dazu auch gerne bewegen. Rautenberg fügt hinzu: „Viele Kinder können kein Deutsch, da ist das Singen zudem sehr positiv für die Sprachbildung und für die Lust, Deutsch zu lernen. Die Kinder fragen nach, was Wörter wie zum Beispiel ‚Aue‘ in einem Lied bedeuten und merken sich das dann auch.“

Ab 2026 wird an den deutschen Grundschulen der Ganztagsanspruch eingeführt. Kinder- und Jugendchöre außerhalb von Schulen befürchten, dass dann ihr Nachwuchs ausbleibt. Rautenberg hofft dagegen auf folgendes Modell: „Die Vereine müssen in die Schulen gehen und dort Chorangebote am Nachmittag machen. Davon könnten alle profitieren.“

Text: Joachim Göres

Kompakt
Aktuelle Zahlen, an wie vielen Schulen es Schulchöre gibt, fehlen. Viele Gymnasien legen großen Wert auf musikalische Angebote wie Schulchöre. Sie sind eine Arbeitsgemeinschaft, für die sowohl die ChorleiterInnen wie auch die SängerInnen viel Freizeit opfern – gerade für die Proben vor öffentlichen Auftritten. An Grundschulen spielt das Singen in der Gruppe auch für die Lernatmosphäre und die Vermittlung der deutschen Sprache eine wichtige Rolle.