Da Schülerinnen und Schüler im digitalen Zeitalter vielfältige kognitive Landkarten der Welt mitbringen, wird die Kartenlesekompetenz immer wichtiger. Matthias Scholliers, ehemaliger Geographielehrer, Schulbuchautor und Lehrplanentwickler, über das Verhältnis von Karte und Wirklichkeit, die Gefahr der Manipulation von Karten und Folgen für den Geographieunterricht.

Wie schätzen Sie die Kartenlesekompetenzen von Schülerinnen und Schülern ein?

Kinder und Jugendliche kommen mit sehr unterschiedlichen Vorstellungen und Kompetenzen zum Kartenlesen. Die Grundfertigkeiten sind über die Jahre mehr oder weniger gleich geblieben, wie z.B. die Fähigkeit, eine Route zu bestimmen oder mit Signaturen zu arbeiten. Insgesamt ist die Kartenlesekompetenz der Schülerinnen und Schüler jedoch ausbaufähig.

Wie hat sich das Kartenleseverständnis der Schülerinnen und Schüler verändert?

Inzwischen haben wir eine sehr große Vielfalt in den Klassen. Die Schülerinnen und Schüler wachsen in sehr unterschiedlichen Lebenswelten auf und bringen unterschiedliche geographische und topographische Vorstellungen mit. Für den einen ist ein Kartenausschnitt, der zum Beispiel Südeuropa zeigt, wichtiger als ein Kartenausschnitt aus Osteuropa. In der Geographie nennen wir dieses Phänomen „mental maps“, also kognitive Karten, die wir im Kopf mit uns herumtragen, und jeder Schüler bringt eine andere Karte mit. Die Herausforderung im Geographieunterricht besteht darin, diese kognitiven Karten aufzugreifen und zu überlegen, ob sie verzerrt sind und welche Alternativen es zu den kognitiven Karten gibt.

Was zeichnet Atlanten und Karten im digitalen Zeitalter aus?

Wir leben in einer Zeit, in der Karten allgegenwärtig sind. Praktisch jeder trägt Karten auf dem Handy bei sich, nutzt sie oder lässt sie in Form von Apps im Hintergrund für sich arbeiten.

Wenn Karten gedruckt werden, enthalten sie den Informationsstand zum Zeitpunkt des Drucks. Da digitale Karten auch auf Datenbanken zugreifen und diese kontinuierlich aktualisiert werden, ändern sich digitale Karten ständig. So arbeiten Navigationssysteme fast in Echtzeit. Darüber hinaus besteht die Möglichkeit, diese Karten auf unterschiedliche Weise zu nutzen. So lassen sich verschiedene Informationsebenen digital ein- und ausblenden und man kann sich auf eine Ebene konzentrieren.

In manchen Atlanten unterstützen kleine Symbole die Schülerinnen und Schüler. Sie können damit einschätzen, ob es sich um eine leichtere oder schwierigere Karte handelt. Die Verlage gehen auch mehr und mehr dazu über, Karten mit unterschiedlichen Schwierigkeitsgraden anzubieten – also zu differenzieren, so dass die Schülerinnen und Schüler gut damit umgehen können.

Was ist Kartenlesekompetenz und welche Kartenlesekompetenzen gibt es?

Die Fähigkeit, Karten zu lesen, ist eine grundlegende Kulturtechnik. Im Geographieunterricht geht es längst nicht mehr nur darum, Länder, Städte oder Flüsse auf der Landkarte zu finden. Kinder und Jugendliche sollen heute ein umfassendes Verständnis dafür entwickeln, wie Karten entstehen, was Karten ausmacht und was sie aussagen. Die Schülerinnen und Schüler sollen auch lernen, verschiedene Kartentypen zu lesen. Sie müssen erkennen, dass eine Karte kein Abbild der Wirklichkeit ist, sondern eine vereinfachte Darstellung, die beeinflusst oder sogar manipuliert werden kann.

Kann der Geographieunterricht einen Beitrag dazu leisten, das Verständnis der Schülerinnen und Schüler für die Wirklichkeit zu verbessern?

Ja, auf jeden Fall. Die Geographie spielt dabei eine zentrale Rolle, denn sie verknüpft Informationen aus ganz unterschiedlichen Bereichen – von den Naturwissenschaften über die Sozialwissenschaften bis hin zu Politik und Wirtschaft. Die Karte ist dabei ein besonders wichtiges Medium, denn sie hilft, komplexe Zusammenhänge visuell greifbar zu machen.

Geographinnen und Geographen werden dazu ausgebildet, Orientierung zu vermitteln – und das geht weit über das bloße Auffinden eines Ortes auf der Weltkarte hinaus. Die so genannte Orientierungskompetenz umfasst zum einen die räumliche Verortung: Wo liegt etwas? Wie hängt es mit anderen Orten zusammen? Sie geht aber auch darüber hinaus: Es geht darum, Entwicklungen und Zusammenhänge zu verstehen – zum Beispiel, wie der Klimawandel Regionen unterschiedlich beeinflusst oder wie wirtschaftliche Verflechtungen global funktionieren.

Was folgt daraus für die Didaktik des Geographieunterrichts?

Die ersten Stunden mit dem Atlas sind besonders wichtig. Eine Möglichkeit des Unterrichtens ist das Vorwissen der Schülerinnen und Schüler zu erfassen und sie zu Beginn selbst eine Karte zeichnen zu lassen. Dann folgt der Vergleich mit den Profikarten – also wie Karten fachlich richtig erstellt und gelesen werden. Es kommt darauf an zu vermitteln, dass Karten nicht einfach die Realität abbilden, sondern konstruierte Modelle der realen Welt sind, die wir benutzen, um bestimmte Sachverhalte zu veranschaulichen. Wir müssen bewusst machen, dass die Gefahr der Manipulation von Karten heutzutage groß ist.

Besonders wichtig ist es auch, Lagebeziehungen gut darstellen zu können. Man hört etwas, man hat eine Vorstellung, aber man kann es räumlich nicht einordnen. Schülerinnen und Schüler wundern sich beispielsweise immer wieder, wie weit südlich New York liegt, dass es bezogen auf Italien auf einem Breitengrad südlich von Neapel liegt.

Es ist aber auch wichtig zu akzeptieren, dass digitale Karten allgegenwärtig sind. Eine Kultur des Umgangs damit, also eine digitale Kultur, kann im Geographieunterricht sicher entwickelt werden. Es ist wichtig, dass im Unterricht sowohl mit digitalen als auch mit analogen Karten gearbeitet wird, um die Kartenlesekompetenz im Zeitalter von Fake News und KI zu stärken.

Das Gespräch führte Arnd Zickgraf.

Medien-Tipp

Der Schulatlas gehört nach wie vor zu den wichtigsten Arbeitsmitteln im Geographieunterricht. Die neue Ausgabe des Haack-Weltatlas 2025 bietet zusätzlich zum klassischen Kartenmaterial zahlreiche digitale Ergänzungen: Erklärvideos, Simulationen und interaktive Karten unterstützen eine anschauliche und schülernahe Kartenarbeit. Besonders hilfreich für den fächerverbindenden Unterricht: Die Ausgabe verbindet geographische, historische und politische Karten miteinander.

Weitere Informationen unter: https://www.klett.de/lehrwerk/haack-verbundatlas-sekundarstufe-i-ausgabe-ab-2025/einstieg