Klett-Themendienst Nr. 102 (10/2021)

Studienplatzwechsel oder Ausbildungsabbrüche sind bisweilen Ausdruck einer beruflichen Planlosigkeit. Mit der schulischen Berufsorientierung bis zum Abitur soll dagegen angegangen werden. Jedoch hängt die Intensität auch am Engagement der Schulen. Wir sprachen dazu mit Sandra Thomalla, Autorin und Lehrerin eines Gymnasiums in Berlin über neue Ansätze.

Viele Schülerinnen und Schüler scheinen nach dem Abitur nicht zu wissen, wohin die berufliche Reise gehen soll. Woran liegt das?

Das hängt von vielen Faktoren ab. Viele Schülerinnen und Schüler haben falsche Vorstellungen von dem, was sie nach dem Abitur erwartet, obwohl die Berufs- und Studienorientierung (BSO) bundesweit an den Gymnasien angekommen ist. Während an den mittleren Schulformen das Thema jedoch schon lange angegangen wird, findet es an den Gymnasien in dieser Intensität erst seit einigen Jahren umfassender statt. Das hängt auch von dem Bundesland und der schulinternen Ausgestaltung der BSO-Angebote ab.

Ausschlaggebend ist auch die Kontinuität, mit der sich die Schüler während der Schulzeit damit auseinandersetzen. Zumeist beginnt die erste Berufsorientierungsphase an Gymnasien in Klasse 8 oder 9 aber der Zeitraum bis zum Abitur ist lang. In der Zwischenzeit haben sich die Jugendlichen weiterentwickelt und vielleicht neue Interessen, Werte- und Lebenseinstellungen entwickelt, die sie in Bezug auf berufliche Neigungen und Wünsche nicht weiter hinterfragt haben.

Steht am Gymnasium also grundsätzlich zu wenig Zeit für die Berufsorientierung zur Verfügung?

Das würde ich so nicht sagen. Ich denke, sie muss in Teilen nur anders organisiert werden, damit die Schülerinnen und Schüler bessere Unterstützung erhalten. Da spielt das Material, das den Lehrkräften dafür zur Verfügung steht, eine große Rolle aber auch, wie Lehrkräfte zu dem Thema aus- und fortgebildet werden. Einige Kolleginnen und Kollegen unterrichten das Fach vor dem Hintergrund einer entsprechenden Ausbildung, andere eignen sich die Inhalte nebenbei an, das ist mit viel Eigeninitiative und Engagement verbunden. Einen Schwerpunkt hat die Berufsorientierung in der Lehramtsausbildung nicht.

Im Internet gibt es eine Menge an Angeboten und Materialien für Schulen, zum Beispiel von den Arbeitsagenturen. Helfen die nicht weiter?

Die Angebote sind sehr vielfältig und gut, aber nicht aufeinander abgestimmt. Für den Unterricht benötigen Lehrkräfte Materialien, die speziell auf ihre Schülerschaft zugeschnitten und zu dem schulinternen Konzept passen. Sind sie das nicht, muss man es erstellen, was mühsam ist. Diese Lücke habe ich schon vor ein paar Jahren zusammen mit einem Kollegen erkannt. Wir haben dann ein einfach einzusetzendes Arbeitsheft für die Sekundarstufe I entwickelt, das sich speziell an Gymnasien richtet (#MeinWeg). Das deckt die wichtigen Bausteine Selbsterkundung, berufskundliches Wissen, Bewerbung und Praktikum ab. Wichtig war uns, dass es mit Modulen arbeitet, die in sich abgeschlossen sind und flexibel z.B. an Projekttagen oder im Unterricht eingesetzt werden können. Und dass fachfremde Lehrkräfte sie ohne größere Vorbereitung unmittelbar einsetzen können.

So wie auch Circles, das von Ihnen mitkonzipierte neue Arbeitsheft für die Sekundarstufe II …

Richtig. Das Circles-Arbeitsheft ist eine Entwicklung speziell für die Oberstufe, das aber sehr konkret und kompakt auf die zentralen Themen der Berufs- und Studienorientierung eingeht, z.B. zu den Themen Ausbildungswege, Studienwahl, Gap Year oder Entscheidungsfindung.
Zentral ist, dass es den Schülerinnen und Schülern vermittelt, den eigenen Entscheidungsprozess aktiv und selbstbestimmt zu gestalten. Das Arbeitsheft ist nur ein Baustein in einem ganzen Medienpaket. Verzahnt ist es mit einer Informations-Plattform für Eltern, Schüler und Lehrkräfte sowie mit der Circles-App. Den Kern von Circles bildet das auf Ganzheitlichkeit orientierte japanische Ikigai-Modell. Das gab es in den schulischen Berufsorientierungsangeboten bislang so noch nicht.

Was macht die Methode so besonders im Vergleich zu anderen und wie nutzt sie den Jugendlichen?

Kurz gesagt steht bei Circles die Sinnfindung und die Inspiration am Anfang und nicht die konkrete Berufswahl. Es geht um die Reflexion der eigenen Werte, um Fragen wie „Was ist mir als Person wichtig?“ oder „In was investiere ich gerne meine Zeit?“. Die Jugendlichen lernen, dass es für ein sinnerfülltes Leben wichtig ist, sich damit zu beschäftigen, weil es unmittelbare Auswirkung auf die Berufswahlentscheidung hat. Das ist aus meiner Sicht ein für sie spannender Ansatz. Die Motivation ist für die Jugendlichen daher eine andere als bei den gängigen Interessens- oder Stärken-Checks.

„Schätzen mich andere auch als kommunikativ ein?“

Im Zentrum der Circles-App steht das Matching mit realen Berufsprofilen. Wie funktioniert das?

Die Circles-App unterstützt die Jugendlichen in ihrer Selbsterkundung. Dazu müssen sie sich mit Fragen zu ihren Lebenseinstellungen, zu ihren Werten oder ihren persönlichen Zielen auseinandersetzen. Das wird ergänzt um die Fremdeinschätzung, also die Sicht von zum Beispiel Eltern und Freunden. Am Ende werden alle Ergebnisse von der App ausgewertet und echten Berufsprofilen von anonymisierten Personen gegenübergestellt.

Das heißt, die Schülerinnen und Schüler vergleichen sich mit realen Berufstätigen?

Ja, richtig. Verglichen werden etwa der gemeinsame Blick auf die Welt, die Fähigkeiten und Interessen. Das alles wird ausgedrückt im sogenannten Ikigai-Wert. In der Datenbank werden laufend Profile aus allen Tätigkeitsgebieten und Branchen hinterlegt, sie ist damit ein gutes Spiegelbild unserer Arbeitswelt. Über eine Befragung können sich Berufstätige hier eintragen und ihre Arbeit vorstellen. Damit beginnt für die Jugendlichen die eigentliche Phase der Inspiration. Dieser Faktor macht es für sie so spannend.

Wie haben Ihre Schülerinnen und Schüler darauf reagiert?

Weil es so ein niedrigschwelliges und schülernahes Angebot ist, war die Akzeptanz von Anfang an hoch. Die App haben die Jugendlichen intuitiv richtig genutzt. Mit den rund 100 Fragen zu „Was ich liebe“ und den 100 Fragen zu „Was die Welt braucht“ sind sie gut zurechtgekommen und für die Fremdeinschätzung haben sie ihre Handys einfach an ihre Freunde weitergegeben bzw. Einladungen an ihre Eltern verschickt. Das funktioniert auf schnelle Art und Weise und macht es auch für die Lehrkraft einfach.

Was würden Sie sich für die Zukunft der Berufs- und Studienorientierung wünschen?

Ich würde mir wünschen, dass den Schülerinnen und Schülern an allen Gymnasien ausreichend Zeit und Raum für die persönliche Berufs- und Studienorientierung eingeräumt wird. Natürlich ist das eine besondere Herausforderung angesichts der Fachinhalte und Anforderungen des Abiturs. Aber der Prozess benötigt Möglichkeiten des Austausches, des Erlebens, der Reflexion. Und er hört nach dem Abitur nicht auf. Ein Studienabbruch oder ein Wechsel sind kein Scheitern, das Leben und der berufliche Werdegang ist meist nicht linear. Und um solche und andere Erkenntnisse zu ermöglichen, ist die Schule ein wichtiger Ort.

Vielen Dank für das Gespräch.

Zur Person
Sandra Thomalla arbeitet als Lehrerin an einem Berliner Gymnasium und engagiert sich seit Jahren für die Berufs- und Studienorientierung. Zudem ist sie als Autorin für den Ernst Klett Verlag tätig. Das Arbeitsheft „CIRCLES – Ganzheitliche Berufsorientierung für die Sekundarstufe II“ erschien im September 2021.