Die Schlagzeilen wiederholen sich: Zu viele Schülerinnen und Schüler haben keine Idee, was sie später beruflich machen wollen. Die Schulen sind gefordert. Ihr Auftrag lautet: auf das Leben nach der Zeit im Klassenraum vorzubereiten.
An Real- und Gesamtschulen geschieht seit Jahren viel. In den Fokus der Kritik rückt jedoch das Gymnasium. Zwar sehen die Curricula der Länder seit einigen Jahren vor, dass auch diese Schulform das Thema stärker beachten soll. Viele Gymnasien tragen dem mit ausgefeilten Orientierungsangeboten auch Rechnung. Doch eben längst nicht alle. Marina (18) steht kurz vor dem Abitur. Sie bedauert: „Wir haben zwar eine sehr engagierte Lehrerin, die uns immer wieder darauf angesprochen hat, doch insgeheim gehen alle Lehrer davon aus, dass wir eh studieren und uns darum selbst kümmern.“ Sie möchte ungern verraten, in welcher Stadt sie lebt. Ihre Sorge: Die offenen Worte kämen nicht gut an und die Abi-Arbeiten stehen vor der Tür.
Pflicht und keine Kür
Zu jenen Gymnasien, die sich der Berufsorientierung nicht nur der „Pflicht“ halber widmen, zählt das Thomas Morus Gymnasium Oelde im Kreis Warendorf im Münsterland. Gleich drei Lehrkräfte nehmen sich des Blicks der Kinder und Jugendlichen auf ihre mögliche berufliche Laufbahn an. Doch die vom Land NRW vorgegebenen Rahmenbedingungen in der Initiative „Kein Abschluss ohne Anschluss (KAoA)“ lösen hier und an anderen Gymnasien nicht nur Begeisterung aus. Drei eintägige Kurzeinblicke in Berufsfelder in Jahrgangsstufe acht bringen nach Einschätzung der Verantwortlichen zu wenig relevante Erkenntnisse. Und dass das seit diesem Schuljahr auch für Gymnasien verpflichtende einwöchige Berufspraktikum auf fünf einzelne Tage in fünf Betrieben gesplittet werden kann, macht aus Sicht vieler Gymnasien keinen Sinn. Dr. Philipp Hermeier, Leiter des Thomas Morus Gymnasiums, betont deshalb: „Bei uns bleibt das Oberstufenpraktikum ein Block.“ Zugleich macht er deutlich, dass in der Sekundarstufe II die Studienvorbereitung nicht zu kurz kommen darf. Die Gymnasiasten in Oelde können daher seit Jahren die wöchentliche Sprechstunde des Arbeitsamtes in der Schule nutzen. „Da erfahren sie sehr genau, welcher Studien-, aber natürlich auch Ausbildungsweg der für sie Richtige sein könnte“, weiß Hermeier.
An der Zielgruppe vorbei
Deutliche Zweifel an der gängigen Praxis äußert Ina, Schülerin einer Gesamtschule in NRW. Die 16Jährige musste erfahren, dass die Vorbereitung auf die Berufswelt fast ausschließlich das Thema Ausbildungen umfasste. Eine Folge des nahezu identischen Konzeptes „Berufsorientierung“ für alle Schulformen? Ina: „Für alle, die nach der zehnten Klasse an der Gesamtschule in die gymnasiale Oberstufe gehen und danach studieren möchten, ist das Orientierungsangebot in der Sekundarstufe I schnell langweilig und ermüdend. Ich fühle mich ausgebremst, wenn mir zum Beispiel bei der Potenzialanalyse nicht erlaubt wird, das Abitur als angestrebten Abschluss anzugeben.“
Auch Ina bestreitet nicht, dass Schulen und Politik die Bedeutung der Studien- und Berufsorientierung erkannt haben. Doch was, wann, wo und wie konkret passiert, hängt stark von den vor Ort handelnden Personen ab. Die Ausprägung unterscheidet sich von Bundesland zu Bundesland, von Gymnasium zu Gymnasium. Manche betrachten es als „eben mal rasch zu erledigendes Anhängsel des Unterrichts, andere als „Kern gymnasialer Erziehung.“
„Raum“ schaffen für Berufsorientierung
Urs Dudzus koordiniert die Studien- und Berufsorientierung am Werner-von-Siemens-Gymnasium in Berlin. Er begrüßt, dass der Senat in „seinem“ Land 2015 eine Verbindlichkeit für die Berufsvorbereitung von Klasse 8 bis 12 beschlossen hat. Doch sein „Aber“ folgt auf dem Fuß. Jeder Schule bleibt das „Wie“ überlassen. „Man kann das als große Freiheit oder als allein gelassen sein bei der Konzeptentwicklung auslegen“, meint Dudzus.
Seine Schule hat sich bereits vor zehn Jahren auf die Fahnen geschrieben, „Schülerinnen und Schüler nicht nur zum Abitur zu führen, sondern auf das Leben danach vorzubereiten.“ Möglichst häufig soll ein Realitätsbezug hergestellt werden. So auch im zwei Semester andauernden Grundkurs der Jahrgangsstufe 11. In ihm werden die Gymnasiasten an handfeste Themen, angefangen von Lebenshaltungskosten über das Sozialsystem bis hin zu Fragen des Mietrechts, herangeführt. Die Nachfrage ist groß. Und so wirkt der Kurs dem gern formulierten Vorurteil entgegen: „Abiturienten können zwar 30 Gedichte interpretieren, aber kennen den Unterschied zwischen brutto und netto nicht.“
Dudzus, der gemeinsam mit seiner Kollegin Sandra Thomalla die Schülerwebsite http://berufsorientierung-wvs.de/ betreibt, „beneidet“ Real- und Gesamtschulen um den festen „Raum“, der Berufsorientierung etwa im Fach Wirtschaft oder Arbeitslehre einnimmt. Oder die Gymnasien in Bundesländern wie Baden-Württemberg. Dort ziert das Fach Wirtschaft die Stundentafel. Diskussionen im Kollegium darüber, dass eine Lehrkraft „Zeit von meinem wertvollen Fachunterricht“ für so ,etwas` abgeben soll, sind hier unbekannt. Und den Schülerinnen und Schülern wird es erleichtert, die geforderte Reflektion über ihre Zukunft, als festes Element des Unterrichts umzusetzen.
Klischeefrei und gendersensibel
Das Werner-von-Siemens-Gymnasium möchte mit einem umfassenden und aufeinander aufbauenden Orientierungsangebot, das von Praktika, Berufsmessen, Kompetenzfeststellungen bis hin zu Career-Days reicht, dass sich seine Schülerinnen und Schüler ohne Schere im Kopf mit ihren Zukunftsmöglichkeiten auseinandersetzen. „Klischeefrei und gendersensibel“ nennt es Dudzus. Dazu nutzt die Schule ein ausgeprägtes Netzwerk mit anderen Schulen und vielen Betrieben. Einer ist der Axel-Springer-Verlag. „Muss das sein?“, fragen viele Eltern mit Abneigung gegen die Zeitung mit den vier großen Buchstaben. Wenn sie aber hören, dass dort in 23 Berufsfeldern Ausbildungen möglich sind, und sich zugleich vorstellen können, dass ihr Kind eine solche einem Studium vorziehen könnte, sagen auch sie „Ja, es muss ein.“ So wie Urs Dudzus und das Kollegium dieses Gymnasiums „ja“ sagen zur Berufsorientierung als zentrales Unterrichtsangebot.
Autor: Stephan Lüke
Kompakt
Rund 330 Ausbildungsberufe und mehr als 20.000 Studiengänge stehen den Schülerinnen und Schülern mit Hochschulzugangsberechtigung offen. Dabei müssen sie sich auf rasch wandelnde Berufsfelder und neue Studienmöglichkeiten einstellen. Eine Herausforderung, der nicht alle gewachsen sind. Die Folge: Rund ein Drittel bricht sein Studium ab. Zu den Gründen zählt das unzureichende Wissen über das Gewählte. In allen Bundesländern sind daher auch in den Lehrplänen der Gymnasien Vorgaben zur Berufsorientierung verankert.
Buchtipp:
Das übersichtlich aufgebaute Arbeitsbuch #mein Weg zur Berufs- und Studienorientierung ist flexibel einsetzbar ab Klasse 8. Die beiden Autoren Urs Dudzus und Sandra Thomalla haben darin umfangreiche Materialien schülergerecht aufbereitet. Allgemeine Ausgabe 2020, ISBN: 978-3-12-007519-6.
https://www.klett.de/produkt/isbn/978-3-12-007519-6?searchQuery=007519