Klett-Themendienst Nr. 89 (10/2019)

Viele Lehrkräfte stehen heute vor Herausforderungen, die bis vor ein paar Jahren noch völlig undenkbar waren. Heute sind sie nicht allein Pädagogen, sondern müssen sich Aufgaben stellen, für die sie vielfach nicht ausgebildet sind. Wir sprachen mit Marcus Eckert von der Leuphana Universität über den aktuellen Lehrermangel in Deutschland und mögliche Ursachen.

Angesichts des jüngst in der Bertelsmann-Studie prognostizierten dramatischen Lehrermangels fordern Sie, dass die Aus- und Weiterbildung von Lehrkräften verändert werden muss, weil sie zunehmend Aufgaben übernehmen müssten, für die sie sich nicht genügend ausgebildet fühlten. Was meinen Sie genau?

In vielen Grundschulklassen gibt es fünf bis sieben Schüler, die den Unterricht kippen können, weil sie sich nicht an Regeln halten, verhaltensauffällig sind. Die Lehrkräfte sind fachlich gut ausgebildet, aber sie bekommen meist nicht das Handwerkszeug vermittelt, wie man mit Störungen und großer Lautstärke im Klassenraum umgeht oder wie man das Thema Inklusion angeht. Oder wie man angesichts großer Unterschiede in der Klasse die Schüler individuell fördern kann. Ein großer Teil der Pädagogen sagt heute, dass sie ihren Beruf nicht weiterempfehlen können. Das ist dramatisch angesichts des großen Mangels gerade bei Grundschullehrkräften.

Was müsste sich also ändern?

Es bedarf einerseits einer Verbesserung der Strukturen, so dass Lehrkräfte substanziell entlastet werden und sich auf ihre Kernaufgaben konzentrieren können. Andererseits bedarf es eines überarbeiteten Curriculums bei der Lehrerausbildung, damit der Umgang mit Störungen während des Studiums viel früher und auch ausführlicher behandelt wird als es heute üblich ist. Die Leuphana Universität bietet im Master Lehramtsstudierenden ein Wahlmodul zum Umgang mit psychischen Störungen im Schulalltag an.

So ein Angebot ist jedoch eher noch eine Seltenheit in der Lehrerausbildung. Zudem brauchen Lehrer mehr Fortbildungen, nicht nur einen Tag im Jahr (Anm. d. R. Lehrkräften steht selten Zeit und Budget zur Verfügung, sich fortzubilden; mit dem 1 Tag pro Jahr ist gemeint, dass ein Kollegium i.d.R. nur einen Tag als Fortbildungstag anmelden darf). Nach solchen Fortbildungen ist eine kontinuierliche Reflexion der Praxis wichtig, damit die Fortbildungsteilnehmer untereinander über ihren Umgang mit Störungen sprechen und sich gegenseitig unterstützen können. Die Bereitschaft und Offenheit dafür ist bei den meisten Lehrkräften vorhanden, die Zahl der Einzelkämpfer wird weniger. Wichtig ist, dass die Fortbildung während der Unterrichtszeit möglich ist wie beispielsweise in Niedersachsen oder Nordrhein-Westfalen. Und auch vom Arbeitgeber bezahlt wird. Das ist ein Zeichen der Wertschätzung und erhöht die Bereitschaft zur Teilnahme angesichts eines Arbeitsalltags an der Belastungsgrenze – wer erwartet, dass Lehrkräfte am Wochenende oder in den Ferien daran teilnehmen, kann nicht mit großer Resonanz rechnen. Insgesamt muss Fortbildung an der Schule einen höheren Stellenwert erhalten.

Sie bemerken an der Uni Lüneburg, dass junge Lehramtsstudierende zunehmend an ihrem Berufswunsch zweifeln. Woran liegt das?

Viele erleben, dass sie bei ihren ersten Praktika hilflos vor einer Klasse stehen. Das alleine ist nicht so tragisch, viel schlimmer ist ihre Beobachtung, dass auch die sie betreuende, erfahrene Lehrkraft oft hilflos ist. Dadurch sind sie erschüttert. Sie bekommen an einigen Schulen vermittelt, dass das Unterrichten ein täglicher Kampf ums Überleben ist. Das führt dazu, dass immer mehr angehende Lehrer einen Studienwechsel in Erwägung ziehen. Und das liegt nicht daran, dass sie besonders labil oder stressanfällig sind oder das Studium nur wegen der langen Ferien gewählt haben – ich habe im Masterstudium mit ganz tollen engagierten jungen Menschen zu tun. Sie sprechen von geringer werdenden Respekt gegenüber Lehrern in der Öffentlichkeit.

Woran machen Sie das fest?

Lehrkräfte erleben vermehrt, dass sie Zielscheibe von Unzufriedenheit werden, für die sie nichts können. Manchmal wird die familiäre Einigkeit über ein gemeinsames Feindbild aufrecht erhalten: den Lehrer bzw. die Schule. Ehrgeizige Eltern versuchen immer häufiger Einfluss auf Entscheidungen von Lehrern zugunsten ihrer Kinder zu nehmen und setzen sie unter Druck. Ich war gerade als Berater in Brandenburg an einer deutsch-polnischen Schule und habe dort häufig von deutschen Lehrkräften den Satz gehört: ‚Wir merken, dass unsere polnischen Schüler gegenüber ihren Lehrpersonen größere Wertschätzung empfinden als es unter deutschen Schülern üblich ist.‘ Es geht nicht um Gehorsam, sondern um das Vertrauen, dass eine Lehrkraft das Beste für den einzelnen Schüler will. Wenn sich die Haltung in der Gesellschaft gegenüber dem Lehrerberuf verbessern würde, wäre schon viel gewonnen und es würde einfacher, neue Lehrkräfte zu gewinnen.

Was sagen Sie dazu, dass der Anteil der Quereinsteiger an vielen Schulen stetig zunimmt?

Ich erlebe hochmotivierte Quereinsteiger mit großen fachlichen Qualifikationen, die sich angesichts geringer Wertschätzung nicht selten fragen, ob der Wechsel an eine Schule wirklich der richtige Schritt war. Man müsste mehr individuell auf Quereinsteiger eingehen und dabei stärker berücksichtigen, ob sie bisher zum Beispiel als Sozialpädagoge oder als Chemiker gearbeitet haben – je nachdem brauchen sie ganz unterschiedliche Unterstützung.

Der in der Bertelsmann-Studie behandelte Lehrermangel hat auch mit dem vorzeitigen Ausscheiden aus dem Beruf aus gesundheitlichen Gründen zu tun. Was ist hier zu tun?

In den Programmen unseres Instituts zur Lehrergesundheit geht es darum zu zeigen, wie man besser mit Stress umgehen kann. Wer hochbelastet ist, bei dem leidet die Interaktion mit den Schülern, die Unterrichtsqualität wird schlechter, ebenso die Lebens- und Gesundheitsqualität. Viele Lehrer leiden unter Schlafstörungen, Kopfschmerzen und Hörproblemen. Wir versuchen die Betroffenen zu stärken, unsere praxisnahen Fortbildungen werden sehr gut angenommen und sind erfolgreich.

Mit Marcus Eckert sprach Joachim Göres

Kompakt
Verlage wie der Ernst Klett Verlag reagieren mit neu konzipierten Lehrmaterialien und Serviceangeboten auf die wachsenden Anforderungen im Unterrichtsalltag, sei es durch Inklusion oder die steigende Anzahl an Seiteneinsteigern. Der Klett-Grundschulverlag bietet etwa über seinen Blog (https://grundschul-blog.de/unterricht-seiteneinsteiger/) Tipps zum Berufsstart, Webinare, Leitfäden, Hilfen beim sprachsensiblen Mathematikunterricht und vieles mehr.

Zur Person
Dr. Marcus Eckert (44), Lehrer und Psychologe, Lehrbeauftragter an der Leuphana Universität Lüneburg, in der Aus- und Fortbildung von Lehrern sowie in der Weiterbildung von Quereinsteigern tätig, Geschäftsführer und Trainer am privaten Institut für LernGesundheit in Lüneburg