Klett-Themendienst Nr. 108 (07/08 2022)

Geschichtsbücher werden laufend von einem professionellen Team aus Historikern, Lehrkräften und Fachredaktionen überarbeitet. Ein Plädoyer von Rüdiger Fleiter, Historiker und langjähriger Redakteur beim Ernst Klett Verlag, was man heute von Bildungsmedien erwarten kann.

Schulbücher im Fach Geschichte werden in der Praxis viele Jahre lang benutzt. Oft höre ich als Begründung den Satz: „In der Geschichte ändert sich ja wenig. Die Steinzeit ist halt die Steinzeit.“ Ein Satz, der mich in meiner Berufsehre als Redakteur herausfordert. Geschichte ist ja nichts Statisches, sondern die Sicht auf die Geschichte wird von der Gegenwart bestimmt – und die verändert sich ständig. Neues aus der Fachwissenschaft, gesellschaftlicher Wandel, Herausforderungen für die Demokratie, Veränderungen in der Zusammensetzung der Klassen, Digitalisierung: All das hat Rückwirkungen auf den Unterricht und auf die Bildungsmedien im Fach Geschichte.  Wie sich diese Veränderungen in unseren Produkten niederschlagen, möchte ich an ein paar Beispielen aus dem Lehrwerk „Zeitreise“ verdeutlichen, das ich als Redakteur betreue. Und ich möchte an dieser Stelle zeigen, dass es sich lohnt, mit aktuellen Schulbüchern und Bildungsmedien im Fach zu arbeiten (und zwar nicht nur für uns als Verlagsmenschen).

Neues aus der Fachwissenschaft

Gerade die Steinzeit ist eine Epoche, an der durch neue Forschungsmethoden nahezu täglich neue Forschungsergebnisse zutage treten. Ein 5.000 Jahre altes Stück Birkenpech kann heute zu einer wissenschaftlichen Goldgrube werden: Die Untersuchung von Speichelresten zeigt nicht nur, dass es sich um einen „Steinzeit“-Kaugummi handelte, sondern DNA-Analysen ermöglichen auch erstaunlich detaillierte Rückschlüsse über den Menschen, der ihn gekaut hat. So hat es der Kaugummi in die neueste Ausgabe der „Zeitreise“ geschafft. Es zeigt sich: „Die Steinzeit“ bleibt nicht einfach „die Steinzeit“ – und das gilt auch für andere Epochen.

Ein paar plakative Beispiele, was sich seit Beginn meiner Tätigkeit als Redakteur (2006) in der „Zeitreise“ geändert hat: die ältesten Frühmenschen (Ardi statt Lucy), die Augenfarbe des „Ötzi“ (braun statt blau), die Akteure der „Völkerwanderung“ („Kriegs- und Reisegesellschaften“ statt ganze „Völker“), die Ursache der Pest (Menschenflöhe statt Rattenflöhe) und neuerdings ihr Ursprungsort (Kirgisien statt China), die Verantwortlichkeit für die DDR-Diktatur (SED statt „Stasi“). Die Aufzählung ließe sich beliebig fortsetzen. Neue Forschungszweige haben sich in den vergangenen 15 Jahren etabliert, z.B. die Visual History, die sich mit der Werk- und Wirkungsgeschichte von visuellen Quellen beschäftigt. Dadurch wurden Foto-Ikonen, die in jedem Geschichtsbuch zu finden waren, neu kontextualisiert.

In aktuellen Geschichtsbüchern erzählen wir die „Geschichten hinter den Bildern“

Das berühmte „Anti-Kriegs-Foto“ des Mädchens Kim Phúc im Vietnamkrieg zeigt nicht die Folgen eines US-Angriffs, sondern eines Angriffs der südvietnamesischen Armee. Das Foto wurde zudem nachträglich beschnitten, um seine dramatische Wirkung zu verstärken. So wurde es zur Ikone der Antikriegsbewegung. Ein oftmals abgedrucktes Foto von Reichskanzler Philipp Scheidemann am Fenster zeigt ihn nicht auf dem Balkon des Berliner Reichstages bei der Ausrufung der Republik 1918, sondern zehn Jahre später, als er die Szene in der Reichskanzlei noch einmal nachstellte. Wir widmen solchen Fotos und ihrer Rezeptionsgeschichte mittlerweile viel Raum.

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Abb. 1 Bilder von jubelnden Soldaten im Ersten Weltkrieg
Sie zeigen keine Kriegsbegeisterung, sondern wurden im Auftrag des Kaiserreichs von Militärfotografen zu Propagandazwecken gestellt. (Aus: Zeitreise, ISBN 978-3-12-451080-8, S. 226f.)

Manchmal braucht es auch Anstöße von außen, um Handlungsbedarf zu erkennen. Nicht selten erleben wir es, dass Fachwissenschaftler:innen die Darstellung in Bildungsmedien kritisieren, weil sie „ihr“ Fachgebiet unzureichend dargestellt sehen. Wir suchen dann den Dialog, um den Rahmen aufzuzeigen, in dem sich die Bildungsmedienproduktion heute bewegt (Lehrpläne, Stundentafel, Anspruchsniveau, Platzmangel, Wirtschaftlichkeit).
Diese Gesprächsebene ist für beide Seiten oftmals ein Gewinn. Aus einem Interview des NS-Experten Dr. Martin Cüppers im Deutschlandfunk 2021, in dem er die Bildungsmedienverlage für die Darstellung des Holocaust kritisierte, entwickelte sich beispielsweise eine fruchtbare Zusammenarbeit. Cüppers begutachtete mehrere Klett-Geschichtslehrwerke und machte konstruktive Vorschläge zur Verbesserung, ließ sich dabei auch auf die Zielgruppe ein. Das Lehrwerk „Zeitreise“ erweiterte und systematisierte daraufhin die Darstellung des Holocaust, ergänzte Quellen aus der Perspektive der Opfer, thematisierte stärker die Handlungsspielräume auf der Täterseite und betonte den jüdischen Widerstand. Am Ende dieses Prozesses steht eine aktuellere, unterrichtstaugliche, fachwissenschaftlich abgesicherte Darstellung des Nationalsozialismus. Ein beglückender Moment im Redaktionsalltag – und ein Grund mehr, mit aktuellen Schulbüchern zu arbeiten.

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Abb. 2 Neue Seite zum Holocaust nach fachwissenschaftlicher Beratung durch Dr. Martin Cüppers.
(Aus: Zeitreise, ISBN 978-3-12-451080-8, S. 70f.)

Austausch: Voneinander lernen

Anstöße zur Verbesserung von Bildungsmedien gehen auch vom Leibnitz-Institut für Bildungsmedien/Georg-Eckert-Institut in Braunschweig aus. Gegenüber früheren Schulbuchanalysen sind die heutigen weitaus differenzierter angelegt und nehmen zunehmend auch den Rahmen, die notwendigen Beschränkungen und den Prozess der Erstellung von Bildungsmedien mit in den Blick. In den vergangenen Jahren waren regelmäßig Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler aus Braunschweig bei uns in der Redaktion zu Gast, um in Workshops neue Studien zu erläutern. Umgekehrt nehmen Redakteurinnen und Redakteure an Symposien oder Workshops des Instituts teil, etwa zur Veränderung von Geschichtsschreibung in einer Zuwanderungsgesellschaft. Seit einigen Jahren holen wir vom Braunschweiger Institut und anderen Fachexpert:innen regelmäßig Expertisen ein – etwa zur Darstellung des jüdischen Lebens, des Nahostkonflikts oder zu Themen des Imperialismus.

Speziell an der Darstellung des Judentums haben wir in den vergangenen Jahren in allen Redaktionen des Geschichtsbereichs kontinuierlich weitergearbeitet: Die aktuellen Lehrwerke enthalten Aspekte des jüdischen Lebens aus verschiedenen Epochen, zeigen Porträts von Jüdinnen und Juden und vermeiden eine Stereotypisierung oder eine Reduzierung auf die Opfergeschichte. Teilweise nutzen wir unsere Spielräume und gehen über die Anforderungen der Lehrpläne hinaus. Ferner werden antisemitische Materialien noch genauer kontextualisiert und problematisiert. Bleibt zu hoffen, dass diese Veränderungen auch in der öffentlichen Diskussion wahrgenommen werden.

Gesellschaftlicher Wandel in Bildungsmedien

Bildungsmedien sind auch ein Abbild gesellschaftlicher Aushandlungsprozesse. In den vergangenen Jahren haben Stimmen zugenommen, die z. B. eine stärkere Repräsentation von Migrantinnen und Migranten sowie mehr Diversität in den Bildungsmedien fordern. Empfehlungen in diesem Sinne gab 2015 eine Schulbuchstudie zum Thema „Integration und Migration im Schulbuch“. Darauf haben wir reagiert: Unsere aktuellen Produkte enthalten mehr Vielfalt in Texten und Abbildungen sowie mehr migrantische Perspektiven, auch auf „klassische“ Themen der deutschen Geschichte wie Nationalsozialismus oder Wiedervereinigung.  Wir achten auch darauf, migrantische Schülerinnen und Schüler nicht in stereotyper Weise darzustellen oder sie durch Aufgabenstellungen auszuschließen („Othering“).

Im Zuge der „Black Lives Matter“-Bewegung 2020 nahm die Debatte noch einmal an Fahrt auf, postkoloniale Initiativen forderten eine stärkere Auseinandersetzung mit Rassismus und Kolonialismus in Bildungsmedien. Die Diskussion um „Identität“ und „Repräsentanz“ wurde in den Feuilletons und im Netz von Befürwortern und Gegnern mit großer Vehemenz geführt. Dazu wäre viel zu sagen. Ich möchte hier nur so viel festhalten: Die gesellschaftlichen Debatten der vergangenen Jahre haben in unserer Redaktion Reflexionsprozesse ausgelöst.

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Abb 3: Rassismus heute – Thema in Bildungsmedien

Kein Zweifel: Wir müssen neue Perspektiven auf die Geschichte aufnehmen bzw. außereuropäische Sichtweisen stärker machen: Die Geschichte Afrikas, der Blick der ansässigen Bevölkerung auf den Kolonialismus, der Umgang mit Denkmälern oder die Frage zur Rückgabe von „Raubkunst“ rücken stärker in den Fokus von Geschichtsbüchern. Dazu schulen wir uns als Redaktion und erarbeiten Handreichungen, um Autorinnen und Autoren etwa im Umgang mit Begrifflichkeiten zu sensibilisieren und zu unterstützen. Die neuesten Lehrwerke haben sich verändert – und werden es weiterhin tun.

Stets im Blick: Lernende nicht überfordern

Der gesellschaftliche Wandel bringt aber auch didaktische Herausforderungen mit sich. Die Zusammensetzung der Schulklassen im mittleren Niveau hat sich in den vergangenen Jahren verändert. Durch die Zusammenlegung von Schulformen und Zuwanderung sind die Klassen heterogener geworden. Wir haben darauf mit differenzierenden Aufgabenwegen, Kopiervorlagen und „Scaffolds“ (Hilfestellungen) in vielfältiger Weise reagiert. Eine eigene Autorin für Sprachbildung beseitigt im Lehrwerk „Zeitreise“ Verständnishürden und achtet auf die klare Struktur und die Länge von Sätzen. Zusatzmaterialien mit vereinfachten Verfassertexten, Worterklärungen und methodischen Hilfen sind mittlerweile für viele Lehrerinnen und Lehrer ein Argument, sich für unser Lehrwerk zu entscheiden. Auch im Kernbereich des Faches Geschichte, der Interpretation von Quellen, müssen wir mit Lehrwerken für das mittlere Niveau neue Wege gehen.

Wir sind gehalten, verschiedene Perspektiven in unseren Produkten abzubilden („Multiperspektivität“ und „Kontroversität“). Die klassische Methode – zwei sich widersprechende Positionen als Quellentexte nebeneinanderzustellen und die Unterschiede herausarbeiten zu lassen – überfordert Lernende des mittleren Niveaus aber oft. Kontroverses wird von vielen Schülerinnen und Schülern gar nicht als kontrovers erkannt, weil sich viele Quellen eben nicht direkt widersprechen oder aufeinander bezogen sind. Wir sind deshalb bei ausgewählten Themen dazu übergegangen, unterschiedliche Positionen plakativ herauszuarbeiten und in Sprechblasen einander gegenüberzustellen. Das ist anschaulich und lenkt den Blick auf die zentralen Streitpunkte. Natürlich legen wir offen, dass es sich um Texte der Autorin handelt, die aber tatsächliche Standpunkte zusammenfassen. Und natürlich arbeiten wir auch weiterhin mit Quellen – das ist heute nötiger denn je (s.u.).

Herausforderungen für die Demokratie

Geändert haben sich auch die Gegenwartsbezüge. In unserer neuesten Ausgabe zeigen wir z.B., dass Verschwörungserzählungen kein neues Phänomen sind und welche Wirkungen sie langfristig entfalten können. Wir stellen Bezüge her zwischen Verschwörungserzählungen der Vergangenheit („Dolchstoßlüge“ 1919: „Der Sieg wurde uns gestohlen!“) und der Gegenwart (Trump 2020: „Die Wahl wurde uns gestohlen!“).
In alle aktuellen Lehrwerke sind Features zur Herausbildung von Medienkompetenz aufgenommen worden. Dabei können wir im Geschichtsbereich ein großes Pfund in die Waagschale werfen: die Quellenkritik. Sie ist der Schlüssel im Kampf gegen „Fake News“ und kann für die Gegenwart nutzbar gemacht werden: Wer ist der Urheber einer Internetseite? Welche Ziele verfolgt er? Ist er verlässlich? Welche Seiten kann ich benutzen, um an verlässliche Informationen zu gelangen? Ich bin überzeugt, dass wir den Wert des quellenbezogenen Arbeitens und die Frage, woher unsere Informationen stammen, in zukünftigen Lehrwerken noch ausbauen müssen.

Digitalisierung: Mehr für das Schulbuch

Ein großer Treiber des gesellschaftlichen Wandels ist die Digitalisierung. Sie ist zunächst für Schule, Unternehmen, Verwaltungen ein interner Prozess – und eine riesige Herausforderung beim Aufbau einer digitalen Infrastruktur. Aber sie verändert auch Unterricht – und natürlich auch unsere Produkte. Es gibt weiterhin die Printwelt, es gibt zahlreiche hybride Produktformate, und es gibt die rein digitale Welt, deren Struktur nichts mehr mit einem Buch zu tun hat. Unsere modernen Lehrwerke enthalten viele digitale Features: Die Schülerinnen und Schüler lernen in Erklärfilmen einen steinzeitlichen Lagerplatz kennen, werden per 3D-Animation ins Innere der Cheops-Pyramide geführt, Tutorials schulen die Methodenkompetenz, interaktive Karten erleichtern die Orientierung und interaktive Übungen sichern Wissen. Alles wird mit differenzierenden Kopiervorlagen für den Unterricht nutzbar gemacht und ist auf das (digitale) Lehrwerk abgestimmt.

Das Homeschooling während der Corona-Zeit hat dem hybriden Unterrichten noch einmal einen Schub gegeben. Und es hat uns im „Zeitreise“-Team auch als Eltern näher auf den Unterricht unserer eigenen Kinder schauen lassen. Daraufhin hat unsere Herstellerin ein paar einfache, aber unterrichtspraktisch sehr bedeutende Änderungen umgesetzt: Kopiervorlagen der „Zeitreise“ sind ab sofort auch digital am Bildschirm ausfüllbar. Es waren ja solche ganz praktischen Fragen (Wie drucke ich das Blatt aus? Wie gebe ich das ausgefüllte Blatt ab?), die Eltern, Lehrkräfte und Lernende im Homeschooling in Atem gehalten haben. Eines lässt sich festhalten: Für die Schülerinnen und Schüler sind die Materialien der vergangenen Jahre anschaulicher und motivierender geworden. Wenn ich da an meinen eigenen Geschichtsunterricht denke, bin ich schon etwas neidisch.  

Klett-Erklärfilme zum Thema:

Was ist Geschichte?

Wie kommen die Inhalte ins Geschichtsschulbuch?

Kompakt
Ich hoffe, es ist mir gelungen, an ein paar Beispielen zu zeigen, wie sich Bildungsmedien stetig verändern. Ich bin gespannt, wie die Lehrwerke der Zukunft aussehen werden – die Digitalisierung wird ja nicht irgendwann enden, sondern ein Treiber bleiben. Auch inhaltlich bleibt es spannend: Wird z.B. der Ukraine-Krieg die Darstellung unserer Geschichtskapitel verändern, werden „blinde Flecken“ hervortreten? Sicher ist: Der Wandel bleibt, denn: „Die Steinzeit“ ist nicht „die Steinzeit“.

Zur Person
Dr. Rüdiger Fleiter, geb. 1974, Historiker, Promotion zum Thema „Stadtverwaltung im Dritten Reich“. 2005-2006 Redaktionsvolontariat bei der „Bundeszentrale für politische Bildung“, seit 2006 Redakteur beim Ernst Klett Verlag in Leipzig. Mit neuen Perspektiven auf die Geschichte hat er vor einiger Zeit selbst Erfahrungen gemacht: Nachdem er in seiner Dissertation die NS-Belastung des Stadtbaurates Karl Elkart nachwies, änderte die Stadt Hannover den Namen der „Elkartallee“. Auch in Berlin soll der „Elkartweg“ umbenannt werden.