Klett-Themendienst Nr. 112 (3/2023)

Seit November 2022 ist ChatGPT öffentlich zugänglich. Doch von Beginn an löste der Sprachroboter des amerikanischen Konzerns OpenAI in Schulen gemischte Gefühle aus. Wie ChatGPT auf spannende Weise im Unterricht eingesetzt werden kann und warum es gleichzeitig wichtig ist, eine kritische Distanz zur bahnbrechenden Technologie zu wahren.

„Oh Mann, was da auf die Schulen zukommt!“, ruft Andrea Stabel aus. Von ChatGPT hat sie zum ersten Mal im Januar 2023 in der Süddeutschen Zeitung gelesen. Daraufhin loggte sie sich bei ChatGPT ein und probierte den Sprachroboter mit einer Argumentationsübung für den Deutschunterricht aus. Die Schulleiterin der Realschule plus in Hillesheim in der Eifel (Rheinland-Pfalz) war verblüfft. „Ich fand es faszinierend zu sehen, was künstliche Intelligenz leisten kann“, sagt Andrea Stabel. „Was passiert, wenn unsere Schülerinnen und Schüler merken, dass sie ihre Texte nicht mehr selbst schreiben müssen? Wenn sie sich sagen: Das lasse ich schreiben!“

ChatGPT lässt Lehrerinnen und Lehrer in der Einschätzung von Prüfungsleistungen vorsichtiger werden. Andrea Stabel erinnert sich an das Beispiel einer Zehntklässlerin, die ihre Leistungen in Englisch verbessern wollte. Sie bat die Schülerin, zu Hause einen kurzen Text über den Ganges in Indien zu schreiben. „Moment mal, kann es sein, dass die Zehntklässlerin das mit ChatGPT gemacht hat? Ich war total überrascht, wie gut sie den kleinen Text geschrieben hat“, sagt die Schulleiterin, die auch Deutsch und Englisch unterrichtet. „Wir unterhielten uns über die Aufgabe und so kam ich zur Einschätzung, dass sie den Text über den Ganges selbst geschrieben hatte.“

ChatGPT sorgt überall für Verwunderung und auch für Verunsicherung. „Kaum eine technische Neuerung hat es so schnell in Schulen und Unterricht geschafft wie der Chatbot ChatGPT. Das auf Künstlicher Intelligenz (KI) basierende Programm sorgt allerdings bei Lehrkräften und Schülerinnen und Schülern gleichermaßen für Verunsicherung, denn noch ist völlig unklar, wie es rechtssicher eingesetzt werden kann“, so die Vorsitzende des nordrhein-westfälischen Philologenverbandes, Sabine Mistler.

„ChatGPT ist nicht intelligent und hat kein Bewusstsein“

Was steckt hinter dem Chatbot? „ChatGPT ist ein Computer mit einem Sprachmodell, der sehr gut rechnen kann“, erläutert Christian Mayr, Lehrer für Englisch und Wirtschaft/Recht sowie Dozent an der Akademie für Lehrerfortbildung und Personalführung in Dillingen. Laut Mayr berechnet ChatGPT, wie Wörter und Sätze mit einer großen statistischen Wahrscheinlichkeit aneinandergereiht werden. „Es kann intelligent wirken, es ist aber keine Intelligenz und hat kein Bewusstsein“, so Christian Mayr im Rahmen einer Lehrerfortbildung, die Mitte Februar vom Ernst Klett Verlag angeboten wurde.

Die Bewunderung für die computergenerierte künstlicher Intelligenz kann zu einer Überschätzung der Technik und einer Unterschätzung des Menschen führen. Andrea Stabel kann sich vorstellen, ChatGPT zur Vorbereitung des Deutschunterrichts einzusetzen, wenn es um Argumentationshilfen geht: Konsum, Verzicht und Nachhaltigkeit. „Auch im Fremdsprachenunterricht könnte ChatGPT Sinn ergeben, vielleicht als Hilfe für die Schülerinnen und Schüler, sich im Englischunterricht von der typisch deutschen Satzstruktur zu lösen“, sagt Stabel. Sie wollten ja immer eine Eins-zu-eins-Übersetzung.

Ein Dialog über das Alte Ägypten für den Geschichtsunterricht

Beängstigend und spannend zugleich findet Stefan Rogge ChatGPT, das teilt er auf Twitter mit. Er ist Mathematik- und Geschichtslehrer am Gymnasium Alsdorf bei Aachen. Mit ChatGPT hat er eine Unterrichtseinheit zum Alten Ägypten vorbereitet. Dazu „füttert“ er den ChatBot mit einem Prompt, so lautet eine Eingabe in ChatGPT: „Führe ein Gespräch mit einem Sechstklässler über das alte Ägypten, gehe davon aus, dass er sich zuvor in einem Stationenlernen ausführlich mit dem Thema beschäftigt hat. Du beginnst das Gespräch und stellst dich als Historiker und Archäologe vor, der lange in Ägypten gelebt und geforscht hat.“
Stefan Rogge konnte beobachten, wie ChatGPT auf die Eingabe antwortete. Der ChatBot stellte sich als Dr. Jones vor: „Hallo, mein Name ist Dr. Jones und ich bin Historiker und Archäologe. Ich habe lange in Ägypten gelebt und geforscht und bin sehr beeindruckt, wie viel du über das alte Ägypten weißt.“ Es entwickelte sich ein Dialog über das alte Ägypten, die menschliche Anatomie und Mumien. Er konnte dies als Unterrichtsmaterial nutzen.

Mit einem Lückentext die Vertretungsstunde retten

Lückentexte erstellen ist eine weitere Möglichkeit, ChatGPT im Unterricht einzusetzen. Der Prompt oder die Eingabe könnte lauten: Erstelle mir einen Lückentext auf Englisch zur Unterrichtseinheit simple past mit 15 Lücken und das Thema ist New York City. ChatGPT antwortet: „New York City is one of the most exciting cities in the world. Millions of people visit each year to experience the vibrant atmosphere and … 1) attractions.“ Die fehlenden Adjektive sind unter dem Lückentext in englischer Sprache nummeriert aufgelistet.

„Wenn Sie in der nächsten Vertretungsstunde Material brauchen, weil Sie unvorbereitet in zehn Minuten in der Klasse 9 b sind und die Kinder beschäftigt werden müssen, fragen Sie ChatGPT. Die KI könnte so manche Vertretungsstunde retten“, sagt Mayr. Verführerische Möglichkeiten bietet ChatGPT für den Einsatz im Unterricht.

Eine experimentierende und zugleich kritische Haltung

Welche Haltung sollten Lehrerinnen und Lehrer gegenüber der KI einnehmen? „Ich würde sagen, mit einer kritisch-reflektierenden und experimentierenden Haltung“, antwortet Felicitas Macgilchrist. Sie ist Leiterin der Abteilung Mediale Transformationen und Professorin für Medienforschung mit dem Schwerpunkt Bildungsmedien an der Georg-August-Universität Göttingen. „Im Unterricht könnte es sinnvoll sein, ChatGPT als kulturelles Phänomen mit Schülerinnen und Schülern zu analysieren, allerdings ohne, dass sie sich individuell einloggen“, sagt Felicitas Macgilchrist. „Wichtig ist, dass die Nutzungsbedingungen von OpenAI die Nutzung ihrer Dienste, einschließlich ChatGPT,  erst ab 13 Jahren erlaubt und bis 18 Jahren nur mit Zustimmung der Eltern oder der Erziehungsberechtigen“, so Felicitas Macgilchrist. Am besten ist es, wenn die Schülerinnen und Schüler Fragen zu Themen stellen, in denen sie selbst gut auskennen, zum Beispiel zu Harry Potter, Fußball oder ihren Lieblingsserien auf Netflix.

Der Unterricht zum Thema ChatGPT könnte sich laut Felicitas Macgilchrist auf Texte beziehen, die den ökologischen Fußabdruck von computerbasierten Sprachmodellen thematisieren oder die einseitige Datengrundlage beleuchten. ChatGPT verbraucht nämlich für jede Benutzeranfrage Strom und wurde vor allem mit Inhalten aus dem Internet „trainiert“. Die Schülerinnen und Schüler könnten darüber nachdenken, wer davon profitiert, wer benachteiligt wird und welche Wissensformen und Perspektiven fehlen.

Medienbildung wird wichtiger
„Medienbildung und Medienkritik werden immer wichtiger, denn es wird auch viele gut klingende Texte geben, die völlig frei erfunden sind. Das Bewusstsein dafür muss geschärft werden“, sagt Wirtschaftslehrer Christian Mayr. In den nächsten Monaten werden sich Schulen in ganz Deutschland zu Studientagen zurückziehen, um sich genauer über den Sprachroboter, seine Chancen und Risiken zu informieren und zu diskutieren, wie sie die Technik im Unterricht einsetzen können – und dürfen. Diese bahnbrechende Technologie wirft viele Fragen auf. Nicht nur didaktische und rechtliche, sondern auch ethische Fragen.

Autor: Arnd Zickgraf

Kompakt
Um Chatbots wie ChatGPT ist ein großer Medienhype entbrannt, der einerseits das Potential einer neuen Kulturtechnik birgt, andererseits aber viele verunsichert. Wie Lehrkräfte KI-basierte Tools in ihrem Unterricht nutzen können und worauf sie dabei achten müssen, dazu bietet der Ernst Klett Verlag aktuell zahlreiche Fortbildungsveranstaltungen an: https://www.klett.de/suche/?query=chatGPT