Klett-Themendienst Nr. 111 (2/2023)

In einem Klima der globalen Unsicherheit ist Bildung für nachhaltige Entwicklung (BNE) ein fächerübergreifendes Ziel, zu dem auch der Englischunterricht Wichtiges beitragen kann. Die Englischdidaktikerin Prof. Dr. Carola Surkamp über das wachsende Interesse an BNE in Krisenzeiten und neuartige Praxisvorschläge für BNE im Englischunterricht.

Wie hat sich das Bewusstsein von Lehramtsstudierenden, Referendarinnen und Referendaren für BNE im Englischunterricht angesichts der Klimakrise, der Pandemie und der offenen Konfrontation der politischen Systeme verändert?

Wir nehmen wahr, dass Veranstaltungen, die globale Herausforderungen zum Thema haben, an den Hochschulen einen großen Zulauf erfahren. Meiner Beobachtung nach ist das Bewusstsein der Lehramtsstudierenden für Nachhaltigkeitsthemen größer geworden. Zwar bringen viele Lehramtsanwärterinnen und -anwärter, die neben Englisch Politik, Biologie oder Geografie studieren, ohnehin ein großes Interesse für BNE-Themen aus ihren Zweitfächern mit. Aber in der Pandemie ist das Empfinden für die Notwendigkeit von Veränderungen noch einmal gewachsen. Auch das Bewusstsein für den Widerstreit unterschiedlicher gesellschaftlicher Ziele ist ausgeprägter geworden.

Was würden Sie Englischlehrkräften antworten, die meinen, sie hätten für BNE keine Zeit?

Es geht nicht darum, dass mit BNE im Englischunterricht noch etwas obendrauf kommt. Vielmehr sollten wir anders darüber nachdenken und uns fragen, welche besonderen Kompetenzen der Fremdsprachenunterricht fördert, die auch für BNE essenziell sind. Das ist ja keine Einbahnstraße. Sicherlich rücken durch BNE im Fremdsprachenunterricht globale Themen in den Vordergrund und es werden neue Inhalte ermöglicht. Gerade die sprachlich orientierten Fächer, die die kommunikative Aushandlung von Themen fördern, tragen aber auch selbst viel zu BNE bei: Sie sind etwa bei der Entwicklung von Diskursfähigkeit und der Vermittlung von zentralen Schlüsselkompetenzen wie Kooperationsfähigkeit, der Fähigkeit zum Perspektivenwechsel und vorausschauendem Denken gefragt. Gleichzeitig kommt Sprachlehrkräften die wichtige Aufgabe zu, Lernende zum nachhaltigen Sprachenlernen zu befähigen, Sprachen als Ressourcen für Partizipation zu begreifen und daher mehrsprachige Kompetenzen zu fördern.

Die Frage kann daher nicht lauten: Warum auch noch Bildung für nachhaltige Entwicklung im Englischunterricht? Vielmehr müsste man die Frage umgekehrt stellen: Was können die einzelnen Fächer, was kann Englisch jetzt zu nachhaltiger Entwicklung beitragen? Die Notwendigkeit einer nachhaltigen Entwicklung ist nicht mehr zu leugnen angesichts der Probleme, vor denen wir stehen, ökologisch, ökonomisch, sozial und politisch. Da es kein eigenes Fach zum globalen oder nachhaltigen Lernen an Schulen gibt, liegt diese wichtige Aufgabe bei allen anderen Fächern. Der Fokus auch der Fremdsprachendidaktik sollte daher die Beschäftigung mit der Frage sein: Was läuft in Bezug auf BNE in Schule und Fremdsprachenunterricht schon? Was trägt dazu bei, dass Kinder und Jugendliche wichtige Nachhaltigkeitskompetenzen erwerben, und könnte daher noch verstärkt werden?

Schülerinnen und Schüler sind mit dem Erwerb von vielfältigen Bildungsinhalten und Kompetenzen ausgelastet: Wozu brauchen sie noch Bildung für nachhaltige Entwicklung (BNE) im Englischunterricht?

Das ist einfach viel zu kurz gedacht, wenn wir uns vergegenwärtigen, was in der Welt auf dem Spiel steht. Wir alle benötigen Nachhaltigkeitskompetenzen, um die vielfältigen anstehenden Probleme auf lokaler, regionaler und globaler Ebene zu bewältigen. Hierzu müssen kognitive, sozio-emotionale und verhaltensbezogene Kompetenzen ausgebildet werden, und dazu kann bzw. muss Schule einen wichtigen Beitrag leisten. Menschen und Organisationen ändern ihr Verhalten nur dann, wenn es Entwicklung im Verhalten auf allen genannten Ebenen gibt. Und wie ich schon dargelegt habe, können auch Englischlehrkräfte viel dazu beitragen, dass Kinder und Jugendliche Fähigkeiten entwickeln, mit denen sie über die Schulzeit hinaus kritik- und handlungsfähig sind.

Erkennen, Bewerten, Handeln – das Modell für BNE im Englischunterricht ist einprägsam. Können Sie an einem Beispiel erläutern, welchen Unterschied zum traditionellen Englischunterricht es macht, wenn Lehrkräfte beziehungsweise Lernende sich diese grundlegenden Kompetenzen aneignen?

Was heißt traditioneller Englischunterricht? Was wäre demgegenüber ein neuer oder anderer Englischunterricht? Es ist schwierig, das klar abzugrenzen, und das halte ich auch nicht für zielführend. Das Modell mit den drei Dimensionen des Erkennens, Bewertens und Handelns, das aus dem Orientierungsrahmen für den Lernbereich globale Entwicklung der Kultusministerkonferenz stammt, macht sichtbar, dass der Komplexität nachhaltiger Themen mit komplexen Kompetenzen begegnet werden muss. Wir benötigen nicht nur Wissen, sondern auch Fähigkeiten und Fertigkeiten sowie Einstellungen und Haltungen.

Schauen wir uns das am Beispiel des Nachhaltigkeitsziels 10 der Vereinten Nationen an: „Reduced Inequalities“. Ungleichheiten zu verringern ist etwas, wonach der Fremdsprachenunterricht im Bereich kulturellen Lernens ohnehin strebt. Das Modell macht dieses große Ziel greifbarer, indem verdeutlicht wird, was genau Menschen benötigen, um Ungleichheiten auf lokaler, regionaler oder globaler Ebene reduzieren zu können. So müssen wir verschiedene Dimensionen von Ungleichheiten in der Gesellschaft, deren Ursachen und Auswirkungen kennen. Wir müssen aber auch in der Lage sein, uns mögliche Formen von Ungleichheit in unserer eigenen alltäglichen Umgebung bewusst zu werden. Und wir müssen uns empathisch in Menschen, die diskriminiert werden, einfühlen und uns für Gleichstellung einsetzen können.

An diesem Dreiklang von Erkennen, Bewerten und Handeln kann sich auch der Englischunterricht bei der Behandlung von Nachhaltigkeitsthemen ausrichten. Das Modell kann also etwa der Strukturierung des Unterrichts und der Entwicklung von Lernaufgaben dienen. Das bedeutet aber nicht, dass man es als starres Schema benutzen sollte: Erst Ungleichheiten auf lokaler Ebene erkennen, dann Stellung gegen die bestehenden Ungleichheiten beziehen und schließlich etwas dagegen tun. So ist das Modell nicht zu verstehen. Es liefert vielmehr einen allgemeinen Orientierungsrahmen für BNE und dessen Zielsetzungen im Unterricht.

Welchen Stellenwert hat BNE in der Fremdsprachendidaktik derzeit?

In der Breite ist der Stellenwert von BNE in der Fremdsprachendidaktik noch nicht offensichtlich. Aber seit der zweiten Auflage des Orientierungsrahmens für den Lernbereich Globale Entwicklung, die 2016 erschienen ist, werden auch die Sprachen in der bildungspolitischen Diskussion um globales Lernen stärker berücksichtigt. Zudem fanden in den letzten Jahren einige Tagungen zum Thema statt, die das gestiegene Interesse der Fremdsprachenforschung an BNE demonstrieren. Auch Nachfragen aus der Schulpraxis zu konkreten Umsetzungsmöglichkeiten für den Fremdsprachenunterricht sind gehäuft zu verzeichnen. Allmählich entsteht da also etwas Neues.

Was brauchen Lehrkräfte, um sich auf Bildung für nachhaltige Entwicklung einzulassen?

Lehrkräfte brauchen innovative und mutmachende Praxisbeispiele. Unser neues Buch Bildung für nachhaltige Entwicklung im Englischunterricht ‒ Grundlagen und Unterrichtsbeispiele etwa bietet sechs Praxisbeispiele für die Unter-, Mittel- und Oberstufe. Man findet aktuell diskutierte Nachhaltigkeitsthemen, wie zum Beispiel Greenwashing. Die Beschäftigung mit diesem Thema befähigt Schülerinnen und Schüler dazu, manipulativen Sprach- und Bildgebrauch sei es in der Werbung, der Politik oder der Presse zu erkennen – und sich ihm reflexiv zu widersetzen.

Außerdem stellen wir innovative methodische Formate vor, zum Beispiel einen ‚Hackathon‘ für nachhaltige Stadtgestaltung. Hierbei handelt es sich um ein Debattierformat, bei dem in einer vorgegebenen Zeitspanne auf ungewöhnliche Weise kreative Lösungen für komplexe Probleme gefunden werden sollen. Die Charakteristika eines Hackathons passen gut zu den Lernprozessen, die für BNE typisch sind: relevante Themen und Fragestellungen, Mehrdimensionalität, multiperspektivische Betrachtungsweisen, systemisches und vernetztes Denken. Kooperative Arbeitsformen und Diskussionsformate wie Hackathons tragen dazu bei, wichtige Schlüsselkompetenzen auszubilden.
Zu den Praxisbeispielen im Lehrbuch gehört auch ein jahrgangsübergreifendes Schulgartenprojekt, das an einer Berliner Schule sehr erfolgreich läuft. In dem Projekt wird der Schulgarten als jahrgangsübergreifender Gegenstand auch des Englischunterrichts behandelt. Es wird zum Beispiel anhand von unterschiedlich medial vermittelten Texten erarbeitet, welche Rolle „urban gardens“ unter ökologischen und sozialen Gesichtspunkten übernehmen können. Zu den Arbeitsmaterialien gehören Gedichte und auch Videos, zum Beispiel zum Gärtnern auf dem stillgelegten Flughafen Berlin-Tempelhof oder zum Anlegen eines eigenen Schulgartens – eine Ermutigung zum Handeln.

Welche nicht nachhaltigen Entwicklungen bereiten Ihnen derzeit am meisten Sorgen? Welche Konsequenzen haben Sie daraus gezogen?

Neben den ökologischen, ökonomischen und sozialen Krisen bereitet mir die zunehmende Ideologisierung der Politik am meisten Sorgen. Diese führt dazu, dass sich bei Meinungsverschiedenheiten die Fronten verhärten und Kompromissfindung kaum noch möglich ist. Aber die Bereitschaft, Kompromisse zu finden, ist erforderlich, wenn wir nachhaltige Entwicklung konkret aushandeln wollen. Nachhaltigkeitsthemen sind für sich genommen schon kontrovers, weil bei nachhaltiger Entwicklung verschiedene Zielsetzungen nebeneinander oder auch gegeneinander laufen können.

Wir müssen daher immer verschiedene Aspekte von Nachhaltigkeit aushandeln, offen sein für andere Positionen, lernen unsere Positionen zu vertreten, Perspektiven zu wechseln, aber eben auch eigene Selbstverständlichkeiten zu hinterfragen. Und das geht nicht in einem Klima der Ideologisierung und der verhärteten Fronten mit Hatespeech in den sozialen Medien.
Dieses ideologische Klima zu ändern, erfordert Kompetenzen, zu deren Ausbildung der Sprachunterricht mit seiner zentralen Zielsetzung auch im kulturellen Lernen beitragen kann. Das war auch ein wesentlicher Grund dafür, dass wir uns in der Klett-Akademie für Fremdsprachendidaktik entschieden haben, am Thema BNE im Englischunterricht zu arbeiten und gemeinsam einen Band mit theoretischen Grundlagen und Praxisbeispielen dazu zu publizieren.

Das Gespräch führte Arnd Zickgraf.

Das Buch Bildung für nachhaltige Entwicklung im Englischunterricht (ISBN: 978-3-37727-1661-4, Klett Kallmeyer Friedrich Verlag) enthält praxisnahe Grundlagen und Unterrichtsbeispiele für die Unter-, Mittel- und Oberstufe. Es ist im Rahmen des Engagements der Klett-Akademie für Fremdsprachendidaktik zu Themen der BNE entstanden. http://www.klett-akademie.de