Klett-Themendienst Nr. 113 (4/2023)

Wer sind Goethe, Schiller, Lessing? Die großen deutschen Literaten sagen vielen Schülerinnen und Schülern zunächst kaum etwas. Jugendliche im Deutschunterricht für Klassiker zu interessieren ist deshalb nicht leicht. Wie es gelingen kann, erklärt der Autor und Deutschlehrer Claus Schlegel.

Wo liegt aus Ihrer Sicht die größte Hürde beim Zugang zu den Klassikern?

Die größte Hürde liegt in der Sprache. Hier tun sich Jugendliche sehr schwer. Deshalb sollte man als Lehrkraft das Interesse an den Figuren wecken, z. B. mit verteilten Rollen lesen lassen, und anschließend überlegen, wie wir einen Dialog heute formulieren würden. Der Zugang zur klassischen Dramenstruktur gelingt ganz gut, wenn man sich deren Regelhaftigkeit etwa anhand von Harry-Potter-Verfilmungen oder anderen Blockbustern verständlich macht. Wenn Jugendliche erkennen, dass in modernen Drehbüchern der Aufbau von Konflikten dem gleichen Muster folgt wie in antiken Dramen – etwa in der Art, in der Konflikte zum Höhepunkt geführt werden – kommen sie über dieses Verständnis auch besser mit dem Sprachgestus zurecht. Sie verstehen dann: So wollen Menschen große Geschichten hören.  

Was genau zählt eigentlich zur klassischen Literatur?

Grundsätzlich lässt sich sagen,  dass es sich um prägende Texte handelt, die weit über ihre Zeit hinausweisen. Im engeren Sinne geht es um die Weimarer Klassik mit den großen Namen des „Viergestirns“ Wieland, Goethe, Herder und Schiller. Aber auch Lessing, Hölderlin, Büchner oder Kleist gehören zu den Klassikern der deutschen Literatur. Um die Jahrhundertwende vom 19. zum 20. Jahrhundert sprechen wir von der Klassischen Moderne, zu der u.a. Gerhard Hauptmann, Thomas Mann oder Bertolt Brecht gehören. Und als Florian Illies für die ZEIT die Edition „Die Klassiker von morgen“ herausgegeben hat, entstand eine wilde Mischung zeitgenössischer Romane. Sie sehen, Klassik ist ein etwas unscharfer Begriff.

Sie haben eine Reihe berühmter Namen genannt. Sagen Schülerinnen und Schülern diese Personen etwas?

Von Goethe und Schiller hat jeder zumindest schon einmal gehört. Das hängt mit der Rezeptionsgeschichte zusammen, die Goethe und Schiller einen bedeutenden Platz im kulturellen Gedächtnis der Deutschen zugewiesen hat.  Lessing sagt den Jugendlichen vielleicht auch noch etwas, Büchner oder Kleist z. B. nicht mehr. Aber es gilt heute allgemein, dass Jugendliche sich häufig abwehrend gegen jegliche Literatur stellen, auch gegen zeitgenössische. Das hat mit den modernen Medien zu tun. Sie sind daran gewöhnt, dass Themen verständlich, pointiert und problemorientiert angeboten werden.    

Da stellt sich die Frage, wie Lehrkräfte Jugendliche überhaupt für Klassiker interessieren können.

Das gelingt gut über die Biografien der Autoren und über Informationen zum politischen und gesellschaftlichen Zeitgeist. Die Schülerinnen und Schüler sind dafür sehr offen und neugierig. Wenn ich etwa frage „Wer war eigentlich dieser Goethe? Warum wurde er so berühmt? Welche kulturellen Strömungen machten Weimar zu einer besonderen Stadt?“, dann können sich Jugendliche gut darauf einlassen. Höchst interessant ist für sie etwa, dass sich die Stadt Weimar im Nationalsozialismus nicht gegen das KZ Buchenwald gewehrt hat, sondern vielfältig davon profitiert hat. Es ist für sie spannend, nachzuvollziehen, wie sich aus dem einst freigeistigen und aufgeklärten Weimar ein Zentrum für nationalsozialistisches Gedankengut entwickeln konnte und was Goethe und Schiller damit zu tun hatten.      

Welche Rolle spielen die Themen, die in den Klassikern behandelt werden, für Jugendliche?  

Sie spielen ebenfalls eine große Rolle. Liebe, Eifersucht, Mord, Neid, Macht, Gerechtigkeit, Toleranz – das sind die Themen der großen klassischen Dramen, die Jugendliche natürlich auch berühren. Nehmen wir z. B. Toleranz und die Ringparabel in Nathan der Weise. Ich frage im Unterricht: Wie tolerant seid ihr? Welche Vorurteile haben wir? Wo ziehen wir die Grenze für Toleranz? Oder schauen wir uns die Figur des Woyzek bei Büchner an, der seine Freundin aus Eifersucht ermordet. Können wir einem Mörder Sympathie oder Mitleid entgegenbringen? Das ist eine spannende Frage. Grundsätzlich finde ich, dass sich eine Lehrkraft auch selbst fragen sollte, was sie persönlich fasziniert. Ich muss mich selbst neugierig machen. Wenn ich in eine Klasse gehen und sagen würde: „Ab heute müssen wir alle den Faust lesen“, könnte ich gleich wieder umkehren.

Spielt es bei diesen großen Themen eine Rolle, ob Jugendliche in ihren Familien Kontakt zu klassischer Literatur haben?

Das ist natürlich hilfreich, aber es spielt vor allem eine Rolle, ob sie Gelegenheit haben, über das Heute hinauszudenken, also ob sie sich Gedanken über philosophische oder psychologische Themen machen und darüber austauschen können. Was bringt z. B. Emilia Galotti dazu, ihren Vater zu bitten, sie zu erdolchen? Welche Vater-Tochter-Beziehung steckt dahinter? Oder in welchem humanitären Konflikt befindet sich Iphigenie auf der Insel Tauris? Über solche fundamentalen Fragen öffnen wir Jugendliche im Deutschunterricht für klassische Literatur. Bestärkt, aber auch angenehm überrascht, hat mich darin mein jüngster Kurs, als er meinte, Nathan der Weise habe ihn stärker angesprochen als Qualityland von Marc-Uwe Kling.  

Das Gespräch führte Inge Michels

Kompakt
Jugendliche für klassische Literatur zu interessieren – das gelingt dem Pädagogen Claus Schlegel, indem er zunächst ihr Interesse für die Autoren und ihre Zeit weckt. Er stellt die großen Themen und Geschichten zur Diskussion und achtet darauf, sich als Lehrkraft auch immer wieder selbst neugierig zu machen.

Zur Person
Claus Schlegel arbeitet als Schulbuchautor beim Ernst Klett Verlag und als Lehrer am Theodor Heuss Gymnasium in Göttingen. Er unterrichtet Deutsch, Geschichte und Darstellendes Spiel.

Buchtipp:
Mit den neuen „Deutsch kompetent Kurslektüren“ für die Oberstufe, z. B. zu Emilia Galotti oder Woyzeck, werden die Lernenden aus verschiedenen Perspektiven an Klassikertexte herangeführt. Ziel ist es, über Bilder und Materialien Brücken zur Lebenswirklichkeit der Schüler:innen zu bauen.

Zu den Kurslektüren: https://www.klett.de/lehrwerk/deutsch-kompetent-kurslektueren-ausgabe-ab-2022/einstieg